Die Pharmaindustrie Die Pillenandreher

Mit einem Heer von Vertretern bringen die Arzneimittelkonzerne, ihre Medikamente in die Praxen. 50.000 Präparate überschwemmen den deutschen Markt, viele davon sind zu teuer oder ganz überflüssig.

Stellen Sie sich vor, es klingelt an Ihrer Tür. Etwa 170-mal im Jahr. Und jedes Mal ist es ein Staubsaugervertreter. Mal versucht er, Ihnen das Modell "Ecken-King" anzudrehen, mal den neuen "Bodengold" und mal die Innovation "Clean Champion". Würden Sie sich jedes Mal das Gequatsche aufs Neue anhören? Ihren Saugerpark bis zum Gehtnichtmehr aufrüsten? Bestimmt würden Sie ziemlich bald durchdrehen und der Nervensäge die Tür vor der Nase zuschlagen.

Wenn Sie Arzt sind, haben Sie das Problem - mit den Pharmareferenten. Menschen, die immer lächeln und Köfferchen voller Tabletten und Dragees, Cremes und Salben in Praxis und Klinik präsentieren. Immer unterwegs im Dienste der Arznei-konzerne. Etwa 15.000 von ihnen ziehen Tag für Tag durch die Republik und machen allein den rund 120.000 niedergelassenen Medizinern ihre Aufwartung - eine regelrechte Landplage. Jährlich 20 Millionen Stippvisiten spult das Heer der Pillen-Pusher ab - das sind durchschnittlich 170 Besuche pro Doktor.

Der aufgeblähte Außendienst rentiert sich: Pharma ist kerngesund. Konjunkturellen Einbrüchen zum Trotz wachsen die Umsätze der profitabelsten Industrie der Welt weiter. Mehr als 21 Milliarden Euro gaben allein die gesetzlichen Kassen im vergangenen Jahr für Medikamente aus - vier Milliarden Euro mehr als noch fünf Jahre zuvor und fast ebenso viel wie der Etat des Bundesverteidigungsministeriums. Erstmals überstiegen damit die Medikamentenkosten die Ausgaben der Krankenkassen für Arzthonorare.

Das Sortiment ist riesig. Cholesterinsenker und Diabetes-Tabletten, Schmerz- und Hochdruckmittel, Herz- und Magen-Arzneien, Stimmungsaufheller und Einschlafpillen, Hämorrhoiden- und Fußpilzsalben quellen aus den Regalen, jeweils zigfach. Rund eine Milliarde Schachteln, Tuben und Fläschchen gehen Jahr für Jahr über die Tresen der knapp 22.000 Apotheken im Land. So gelang es den Apothekern im vergangenen Jahr, gegen den allgemeinen Trend eine Steigerung ihres Einkommens zu erwirtschaften.

Pharma ist ein undurchsichtiger, überfrachteter Markt, der ausgemistet werden muss, um mehr Klarheit für den verschreibenden Doktor zu schaffen und die Beitragszahler zu entlasten. "20 Prozent der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Kassen könnten eingespart werden, ohne dass die medizinische Versorgung leidet", sagt der Heidelberger Pharmakologie-Professor Ulrich Schwabe. "Das macht 4,2 Milliarden Euro im Jahr." Doch wie können Einsparungen durchgesetzt werden? Vom Sommer 2003 an soll in Deutschland eine Arzneimittel-Positivliste gelten, so jedenfalls will es Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Allerdings mögen viele Experten kaum daran glauben - seit Ewigkeiten geistert die Idee einer solchen Pillen-Bibel durch Politikerhirne und wurde doch nie Realität - zu heftig war der Widerstand der Lobbys.

Die Liste soll die Spreu vom Weizen trennen. Sie ist ein von Spezialisten zusammengestelltes Verzeichnis aller Arzneien, deren Nutzen als wissenschaftlich erwiesen gilt und die künftig einzig noch zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden dürfen. Auch homöopathische und anthroposophische Mittel stehen darauf, müssen aber nicht solch strengen Auswahlkriterien genügen. Immerhin soll mit Hilfe der Positivliste und geänderter Zulassungsverfahren das gigantische Angebot von derzeit 50.000 erstattungsfähigen Präparaten auf rund 20.000 reduziert werden.

Kränker wird dadurch keiner: In Schweden haben Ärzte und Patienten nur die Wahl aus 3500 Arzneien, in Frankreich aus 7700. Eine Radikalkur gegen die deutsche Pillenflut ist das anvisierte Tabletten-Register allerdings nicht. Auch mit ihm wird es für jede Krankheit alles noch x-fach geben, mit nahezu identischen Wirkungen. Auch dann noch werden beispielsweise Dutzende Beta-Blocker und ACE-Hemmer gegen Bluthochdruck sowie ganze Sortimente von Schmerztabletten um die Gunst von Arzt und Patient konkurrieren. Das treibt die Kosten für Vertriebslogistik, Lagerhaltung und Personal in die Höhe, die dann an den Kunden weitergegeben werden.

Dringend muss auch der Dschungel der so genannten Pseudo-Innovationen gelichtet werden. Denn Pharmafirmen bringen regelmäßig teure, angeblich revolutionär wirkende Medikamente heraus, die sich in Wahrheit nur unwesentlich von ihren Vorgängern unterscheiden. Allein im Jahr 2001 wurden in Deutschland 2.496 neue Arzneien zugelassen. Oftmals liegt diesen "Neuerungen" kaum Forschungsfortschritt zugrunde. "Fast alle der Wirkstoffe, die jedes Jahr auf den deutschen Markt kommen, sind nur minimale und klinisch irrelevante Veränderungen der alten", sagt Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des Berliner "Arznei-Telegramms", eines pharmakritischen Info-Blattes für Ärzte. "In den letzten fünf Jahren gab es nicht mal ein halbes Dutzend pharmakologische Entwicklungen, die wirklich relevant waren."

Doch alle anderen Neuen sind, sofern patentgeschützt und zugelassen, den wenigen echten Innovationen gleichgestellt: Der Hersteller legt den Preis fest, die Kasse muss ihn erstatten. Für Mittel, deren Exklusivrecht abgelaufen ist, zahlt die Kasse dagegen deutlich weniger.

Hinter mancher vermeintlichen Wunderwaffe aus dem Labor verbirgt sich lediglich ein generalüberholtes Alt-Konzept. Wenn nämlich Patente bestimmter Produkte auslaufen, können sie auch von der Konkurrenz hergestellt werden. Der Preis verfällt. Also muss brandheiße Ware her: Nur mit einem neuen Mittel für dieselbe Anwendung lässt sich die Marktbeherrschung verteidigen und sogar ein noch höherer Preis rechtfertigen. Und tatsächlich - der Trend geht zum Teuren: Zwar griffen die Ärzte, wie von Gesundheitsministern und Kassen gewünscht, immer seltener zum Rezeptblock. So ging die Zahl der Verschreibungen seit 1992 um 30 Prozent zurück. Doch in derselben Zeit wurde das Durchschnittsrezept um 78 Prozent teurer.

Mit gigantischem Aufwand drücken die Firmen ihre Pillen in die Schubladen von Medizinern und Apothekern. Etwa 30 Prozent ihres Umsatzes, über zehn Milliarden Euro, investiert die Branche in Marketing und Vertrieb, mehr als doppelt so viel wie in Forschung und Entwicklung. Hauptwaffe: die Schar geschulter und spendabler Vertreter, die Hausbesuche machen und die Vorzüge ihres Kofferinhalts preisen; die neben Probepackungen allerlei Kugelschreiber und Notizblöcke mit fettem Produktnamen dalassen und die willigen Opfer zum Lunch ausführen.

Besonders gut zum Ködern eignen sich auch luxuriöse Reisen. So lud im Sommer 2000 eine Pharmafirma Rheuma-Ärzte samt Ehegatten an die Côte d'Azur, dort wurde der Trupp in feinsten Hotels einquartiert, mit Besichtigungstouren und Galadiners verwöhnt. Der offizielle Anlass: ein europäischer Rheumakongress. Sehr beliebt sind auch Pseudo-Fortbildungen mit Segeltörns oder Einladungen zum Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft.

Ein anderer Dreh der Branche heißt "Anwendungsbeobachtungen". Die Firmen bitten Ärzte, einer Reihe von Patienten ihr Medikament zu geben und die Wirkung per Fragebogen zu kontrollieren - gegen Honorar für den Mehraufwand des Doktors, versteht sich. So ließen sich wissenschaftliche Erkenntnisse über die neue Arznei gewinnen, heucheln die Hersteller. Doch in Wahrheit ist das oft nichts anderes als Produkt-Promotion, bei der der Arzt lernt, den Namen des Medikamentes zu verinnerlichen und der Patient darauf fixiert wird. Die Ergebnisse der wissenschaftlich zweifelhaften Mini-Befragungen tauchen so gut wie nie in Fachpublikationen auf.

Obendrein schafft es die Pharmaindustrie immer wieder, Professoren vor ihren Karren zu spannen, die ihre Produkte wissenschaftlich verbrämt in den Himmel heben. "Die Bereitschaft mancher Honoratioren, bei solch einer Korrumpierung der Wissenschaft mitzumachen, ist haarsträubend", sagt Wolfgang Becker-Brüser. "Als Handlanger der Industrie schädigen diese habilitierten Pharmareferenten den gesamten ärztlichen Berufsstand."

Wie aber kontrolliert die Branche, ob ihre "Behandlungsmethoden" bei den Ärzten auch die erwünschte Wirkung zeitigen? Dabei hilft ein raffiniertes System: Die Apotheken erfassen alle Rezepte inklusive Angabe des ausstellenden Arztes und leiten die Daten an ein Apotheken-Rechenzentrum weiter, das eigentlich feststellen soll, wie viel die Krankenkasse für die Verordnungen zu zahlen hat. So weit okay. Dann verkauft es jedoch die Angaben - anonymisiert natürlich - an Datenhändler.

Aus der Kombination verschiedener, mäßig verschleierter Informationen erzeugen diese Spezialisten eine Auswertung, die sich die Pharmaindustrie viel Geld kosten lässt. Es ermöglicht den Arzneimittelproduzenten, sich quasi online zusammenzureimen, welcher Arzt wann was verordnet. Fertig ist das Instrument zur Kontrolle des Marketing-Erfolgs.

Gegen diese perfekt organisierte Pharma-Connection stemmt sich ein kleine Schar hartnäckiger Kritiker. So informiert beispielsweise das Berliner "Arznei-Telegramm" (Auflage 30.000 Stück) Ärzte monatlich über Sinn und Unsinn von Präparaten und die Machenschaften der Hersteller. Zudem gibt die Redaktion regelmäßig das "Arzneimittelkursbuch" (Arzneimittel-Verlags-GmbH Berlin, 2464 Seiten, 109 Euro) heraus, in dem Medikamente für Mediziner und versierte Laien bewertet werden. Am wirksamsten allerdings wäre wohl, wenn Doktoren schon vor Berufsantritt gegen den "Pharma-Bazillus" immunisiert würden. "Die dringendste Reform des Medizinstudiums wäre es, Studenten gründlich in der Abwehr der Fehlinformationsversuche der Arzneimittelindustrie zu unterrichten", sagt der Bremer Pharmakologie-Professor Peter Schönhöfer.

Immerhin gibt es erste Mitmach-Ansätze in der praktizierenden Medizinerschaft: So schreiben viele Ärzte statt des Medikamentennamens nur noch den Wirkstoff aufs Rezept, beispielsweise Acetylsalicylsäure statt Aspirin - in der Hoffnung, dass der Apotheker dann das billigste Präparat heraussucht. Doch auch der ist keineswegs gegen die Verführungskünste seiner Lieferanten gefeit, die ihm gern verlockende Rabatte für bestimmte Arzneien gewähren und mit anderen Annehmlichkeiten das Leben versüßen.

Und falls der Markt nicht artig wachsen will, lohnt es sich durchaus, ein ganz neues Segment zu eröffnen. So kreiert man neue Krankheiten und gar Epidemien, um sogleich das passende Mittel parat zu haben. Beispiel: Im Zuge eines Werbefeldzugs für ein Potenzmittel wurde in einer Anzeige behauptet: "39 Prozent aller Männer, die einen Arzt aufsuchen, haben Erektionsprobleme." So sollte das Stehproblem zur Volkskrankheit aufgebauscht werden. Verschwiegen wurde jedoch, dass es sich bei der Zahl keinesfalls nur um chronische Hänger handelte, sondern dass auch jede Menge einmalige Abschlaffer mitgezählt wurden.

Es lässt sich eben auch noch ein Batzen Geld damit verdienen, gesunden Menschen einzureden, sie seien krank.

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Anika Geisler und Horst Güntheroth