Frau Nahles, was läuft in der Großen Koalition schief?
Wir müssen Tacheles reden, wo es nötig ist. Das war so beim Kündigungsschutz. Und es ist so bei der Gesundheitsreform. Nicht aus Mutwillen, aber die Koalition muss jetzt wesentlich intensiver als in den vergangenen Monaten die inhaltlichen Klärungen vorantreiben. Wir brauchen politischen Diskurs und Führung. Das wurde angekündigt, aber eingelöst ist es noch nicht.
Meinen Sie Kanzlerin oder SPD-Führung?
Die Kanzlerin war bisher als Schiedsrichterin auf dem Platz, sie ist aber als Kapitän gewählt. Jetzt hat sie die ersten Gehversuche als Kapitän gemacht. Aber offen gesprochen: Das kann noch besser werden.
Und in Ihrer eigenen Partei?
Das gilt auch für unser politisches Management. Die SPD hat in der Gesundheitsreform ihr Gesellenstück in der Großen Koalition zu meistern. Die Frage Kopfpauschale oder Bürgerversicherung war im Wahlkampf eindeutig klar: Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt das Unionsmodell ab. Die Partei und unsere Wähler haben entsprechend hohe Erwartungen. Aber wer derzeit versucht, die Verhandlungslinie der SPD herauszufinden, fühlt sich, als ob er in Watte greift.
Was erwarten Sie von der Reform?
Dass die Geburtsfehler des deutschen Gesundheitssystems korrigiert werden. Das kann nur eine Große Koalition machen.
Was sind die Geburtsfehler?
Nach dem Krieg hat sich die Selbstverwaltung gebildet, weil es keine andere Möglichkeit gab. Heute sind die Kassenärztlichen Vereinigungen eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Es ist unverständlich, dass die Ärzte vor unserer Tür protestieren. Warum gibt es eine Selbstverwaltung, wenn am Ende die Politik immer der dumme August ist? Kein Land der Welt leistet sich eine Doppelversorgung mit niedergelassenen Fachärzten und Fachärzten in den Krankenhäusern. An solche Fragen müssen wir ran.
Ist die Aufteilung zwischen gesetzlichen und privaten Versicherungen ein weiterer Geburtsfehler?
Definitiv. Da ist ein unfairer Wettbewerb entstanden, weil nur Bezieher höherer Einkommen wechseln dürfen. Der Geburtsfehler war, berufsständische Strukturen und ein Sondersystem für Beamte und Selbstständige zu schaffen. Das ist ein alter Zopf, der abgeschnitten gehört. Die Alternative wäre: freie Kassenwahl für alle.
Sie werben für eine Bürgerversicherung.
Ja.
Aber so wenig wie die Kopfpauschale kommt, werden Sie die jetzt erreichen.
Richtig.
SPD-Fraktionschef Peter Struck spricht von einem dritten Weg. Wie kann der aussehen?
Mein Minimalziel ist, dass der Weg in die Bürgerversicherung nicht verbaut wird. Wenn man die Privatversicherung an der Solidarität beteiligt, sie also etwa in den Risikostrukturausgleich einbezieht, wäre das weder eine Festlegung in die eine noch in die andere Richtung. So wäre es möglich, das System zumindest für einige Jahre zu stabilisieren. Dabei wird man auch über Beitragsbemessungsgrenze und Versicherungspflichtgrenze reden müssen. Mit der gleichen Verve muss man an die Ausgaben ran. Es fehlen im nächsten Jahr rund zehn Milliarden Euro. Die würde ich gern fifty-fifty über die Einnahme- und die Ausgabenseite finanzieren.
Vizekanzler Franz Müntefering aber fordert eine Lösung, die mehrere Jahrzehnte hält.
Ich wünsche mir auch, dass wir aus der ständigen Reformitis des Gesundheitswesens herauskommen. Das würde viel Vertrauen in das System schaffen. Aber ich bin skeptisch, weil die CDU immer nur zwei Ziele hochhält: Zum einen sollen die Kostensteigerungen künftig allein die Arbeitnehmer zahlen, zum zweiten erklärt die Union die private Krankenversicherung für sakrosankt. Aber es kann ja sein, dass Franz Müntefering mehr weiß als ich (lacht). Da läuft 'ne Menge hinter den Kulissen.
Im Herbst warnten Sie, die Große Koalition könnte das Parlament schwächen...
...und das erste Beispiel dafür scheint die Gesundheitsreform zu sein, sie wird gerade als eine geheime Kommandosache der Regierung angelegt. Da die Gesundheitspolitik aber alle Menschen angeht, müssen Parlament und Parteien einbezogen werden.
Die Koalitionsspitze will den Lobbyisten keine Angriffspunkte liefern.
Die sind wirklich aggressiv. Da kann man froh sein, dass eine Große Koalition ein dickeres Fell hat. Aber mir fällt auf, dass man ohne klare Vorstellung des Auftrages in Verhandlungen geht. Bei Union wie SPD ist es nebulös. Da sage ich: Vorsicht!
Sie haben genug von Basta-Politik?
Die Gesundheitsreform ist für die SPD von derselben Brisanz wie Hartz IV. Da können wir wieder sehr viele Leute massiv irritieren. Viele in der Regierung sagen: Das ist die Bewährungsprobe der Großen Koalition. Da gebe ich ihnen Recht. Aber es ist auch die Frage: Wie bewährt sich die SPD in der Großen Koalition? Wir sind noch immer im 30-Prozent-Turm gefangen. Da will ich nicht weiter runter, sondern rauf. Ich war deshalb froh, dass Matthias Platzeck vier Eckpunkte benannt hat: keine Pauschale, keine massiven Leistungskürzungen, kein Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags und eine klare Schwerpunktsetzung auf die Ausgabenseite.
Das einzige Signal der Kanzlerin war bisher: Gesundheit wird teurer. Teurer für wen?
Das ist die Frage. Damit hat sie das Vorurteil bestätigt: Die Politiker sitzen zusammen, der Berg kreißt und gebiert eine Maus. So nach dem Motto: Uns fällt nichts ein außer einer Belastung der Bürger. Wir müssen an die Ausgaben ran. Die Pharmaindustrie hat 16 Prozent Umsatzsteigerung gehabt im vergangenen Jahr. Viele Krankenkassen geben inzwischen mehr für Arzneien aus als für Ärzte. Das kann doch nicht wahr sein. Wenn eine Kanzlerin nur sagt, für die Bürger wird's teurer, Entschuldigung, dann kneift sie.
Die rote Linie der SPD ist: keine Pauschale?
Ja.
Auch keine Minipauschale?
Ja, denn das wäre der nicht umkehrbare Einstieg in die Logik der Kopfpauschale. Die SPD macht keine Form der Kopfpauschale mit.
Einen Zuschlag zur Einkommensteuer, einen Gesundheits-Soli, können Sie sich das vorstellen?
Auf jeden Fall müssen Privatversicherungen in die Finanzierung der solidarischen Krankenversicherung einbezogen werden. Das wäre der effizienteste und gerechteste Weg. Ein Soli wäre aber zumindest gerechter als eine Kopfpauschale. Über die Steuerprogression sind bei einem Soli auch die Höherverdienenden beteiligt und über die Steuerfreibeträge kleine Einkommen entsprechend weniger belastet. Aber ich wiederhole: Das kann nicht so laufen: Belasten wir erst mal die Leute, schwupp, brauchen wir uns über anderes nicht zu unterhalten. Das ist zu bequem. Finde ich völlig falsch. Als Erstes müssen wir über die Ausgaben reden.
Kurzfristig bekommen Sie darüber aber nicht die nötigen Milliarden zusammen.
Unterschätzen Sie die Effizienzreserven im System nicht.
Die Union würde gern mit einem Gesundheits-Soli die Versicherung der Kinder bezahlen. Wäre das nicht gerecht?
Ich bin dagegen, den Gesundheits-Soli nur für die Kinder einzusetzen - und erst recht nicht auch noch für die Privatversicherten, wie die CSU das will. Dann würden alle freiwillig Versicherten, die vor allem wegen der Familienmitversicherung noch bei den Gesetzlichen sind, zu den Privaten wechseln. Das würde die Solidarität massiv schwächen. Ich sehe keinen aktuellen Grund, aus der Familienmitversicherung auszusteigen. Die ist ein großes Pfund. Zudem: Woher sollen die 14 Milliarden Euro dafür denn kommen?
Was haben Sie gedacht, als Sie erfuhren, dass Ihr Parteichef einen Hörsturz hatte?
Ich war erschrocken. Aber ich würde das nicht dramatisieren. Ich fänd's gut, wenn er sich jetzt nicht hoppdipopp wieder in die Mühle begibt, nur um allen zu zeigen, dass er wieder fit ist. Es wär schon ganz vernünftig, wenn er sich mal ein paar Tage auskuriert.
Zweifeln Sie an seiner Leistungsfähigkeit?
Nein. Unsinn.
Hat es bei Ihnen schon mal geklingelt?
Nee.
Sie standen auch schon häufiger unter enormem Druck.
Ich kompensiere das durch Zunehmen (lacht). Ich versuche gerade wieder abzunehmen - und jetzt kommt die Gesundheitsreform.
Eine Folge des Wahlsieges von Kurt Beck in Rheinland-Pfalz könnte sein, dass in der SPD die Kanzlerkandidatenfrage noch mal ganz neu gestellt wird.
Ich kenne Kurt Beck schon lange, der Mann ist loyal. Deshalb wird es anders als in früheren Zeiten keinen Konflikt in der SPD geben. Da bin ich mir sicher. Die werden das klären. Der Parteivorsitzende hat den ersten Zugriff, das ist bei allen Konsens.
Interview: Andreas Hoidn-Borchers, Lorenz Wolf-Doettinchem