Während sich ihre Kommilitonen zum Vorglühen trafen und die Clubs unsicher machten, verbrachte Johanna Klug ihre Wochenenden lieber auf der Palliativstation, die die 28-Jährige liebevoll "Palli" nennt. Seit mittlerweile acht Jahren begleitet die Würzburgerin ehrenamtlich Menschen, die kurz vor dem Tod stehen. Die Begegnungen mit den Sterbenden und die Nähe zum Tod bereichern ihr Leben, sagt Johanna Klug. "Es beginnt damit, mich selbst zurückzunehmen. Es geht nicht um mich, sondern um mein Gegenüber", erzählt sie im Gespräch mit dem stern.
Der neue stern-Podcast "Die Suche nach dem guten Tod" befasst sich ebenfalls mit dem Thema Sterben. Hören Sie hier alle bisherigen Folgen:
Für Johanna Klug ist es wichtig, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, aktiv zuzuhören und mit voller Aufmerksamkeit im Moment zu sein. "Und auch Momente auszuhalten, die mal nicht so schön sind", fügt sie hinzu. Es seien oft die Augenblicke, die uns banal scheinen oder die kleinen Dinge des Alltags – Waffeln, Blumen – die auf der "Palli" oder im Hospiz eine enorme Bedeutung entfalten. Darüber berichtet die Sterbebegleiterin nicht nur im stern-Podcast, sondern auch in ihrem Buch "Mehr vom Leben". Im Interview spricht sie über ihre erste Begegnung mit dem Tod, über die Begleitungen, die sie besonders geprägt haben und darüber, was wir von den Menschen am Ende des Lebens lernen können.
Mit 16 hast du im Altersheim gejobbt, mit 20 hast du begonnen, ehrenamtlich auf der Palliativstation zu arbeiten. Was hat dich bewogen, dich so früh mit dem Tod auseinanderzusetzen?
Ich finde, man müsste die Frage eher umdrehen: Warum beschäftigt man sich im jungen Alter nicht schon mit diesem Thema? Wir denken immer, es sterben nur Menschen, die alt sind. Das ist eine riesige Illusion. Ich finde es wichtig, dass man den Tod als Teil des Lebens nicht ausschließt. Ich habe mit 16, als ich ins Altenheim gekommen bin, gemerkt, wie wertvoll dieser Generationen-Austausch ist und dass ich so viel davon lernen kann, weil es darum geht, eine andere Perspektive für das Leben zu bekommen. Als ich mit 20 auf die Palli gekommen bin, war es aus einem Impuls heraus. Es gab keinen Todesfall in meinem Umfeld. Ich war in meinem Auslandsemester und habe Hausarbeiten geschrieben. Plötzlich kam der Wunsch, etwas Sinnstiftendes zu machen, der Wunsch, sterbende Menschen zu begleiten.
Du hattest keine Bedenken, mit Menschen zu arbeiten, die unmittelbar vor dem Tod stehen?
Der Tod hat mich nie geängstigt. Ich habe nie verstanden, warum er so aus unserem Leben rausgeschoben wird. Das hat mich im Altenheim schon irritiert. Wenn einer gestorben ist, wurde der Leichnam still und heimlich abgeholt, während die anderen Senioren im Speiseraum saßen. Als ob es den Menschen nie gegeben hätte. Das hat sicher auch dazu beigetragen, dass ich mit 20 auf die Palli wollte. Aber ich musste mich dann erst einmal informieren, was eine Palliativstation überhaupt ist und wie das abläuft.

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Zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert warst du aber bereits während der Zeit im Altersheim. Was war das damals für eine Situation und was hat das mit dir gemacht?
Es war lebenseinschneidend für mich. Es war morgens um sieben, ich habe das Frühstück für die Menschen vorbereitet. Manche haben im Speisesaal gegessen, anderen habe ich es aufs Zimmer gebracht. Das war auch bei ihm der Fall. Als ich sein Zimmer betrat, habe ich ihn gefunden. Es hieß, er hätte einen Schlaganfall auf der Toilette erlitten. Dabei ist er umgefallen und lag dann in seinem eigenen, eingetrockneten Blut. Ich konnte das für mich gut einsortieren. Es hat mich geprägt, aber nicht traumatisiert. Allerdings fand ich die Art und Weise, wie damit umgegangen wurde, ganz schwierig. Weil niemand mehr nachgefragt hat. Es ging einfach so weiter.
Die Menschen, die du begleitest, wissen, dass sie kurz vor dem Tod stehen und können Bilanz ziehen. Was sind die Lektionen, die ihnen das Leben gelehrt hat? Gibt es Dinge, die sie anders gemacht hätten?
Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte. Aber ich finde schon, dass sich manche Sachen wiederholen. Am Ende ihres Lebens zeigt sich, dass man nichts von seinem Besitz mitnehmen kann. Materielle Dinge haben keine Bedeutung mehr. Das, was bleibt, sind die Beziehungen zu Familie und zu Freunden. Viele Menschen sagen am Lebensende, dass sie zu viel gearbeitet und zu wenig Zeit mit ihren Liebsten verbracht haben. Dass sie sich auch zu wenig um sich selbst gekümmert und immer versucht haben, anderen alles recht zu machen. Das kommt oft zur Sprache.
Web-App "Der letzte Tag"
Der stern-Podcast "Die Suche nach dem guten Tod" wird von der Körber-Stiftung unterstützt. Die Stiftung möchte den Themen Sterben und Tod das Tabu nehmen und ermutigen, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Dazu hat sie die Web-App "Der letzte Tag" entwickelt. Was wäre, wenn heute der letzte Tag Ihres Lebens wäre? Was möchten Sie noch erleben? Wen möchten Sie treffen? Auf derletztetag.de können Sie Ihren fiktiven letzten Tag planen und Ihre Gedanken teilen – und so herausfinden, was im Leben wirklich wichtig ist.
Was hast du daraus für dein eigenes Leben gelernt?
Ich habe einen anderen Fokus bekommen und bin dadurch sehr dankbar. Ich habe in der Anfangszeit auf der Palli gemerkt, dass ich viel lieber dort bin als in der eigentlichen Realität. All die Menschen, die ich begleitet habe, haben etwas in mir hinterlassen. Es sind so tiefe, pure Begegnungen, wo wir uns so zeigen können, wie wir sind. Es geht so viel um Konkurrenz und Macht im Leben und das ist dann nicht mehr von Belang. Es geht um das Wesentliche, darum, weshalb wir eigentlich hier sind. Das ist ein Raum, wo man sich verletzlich zeigen darf und muss, um berührt zu werden. Das ist der Grund, wieso ich es nach wie vor mache. Früher dachte ich immer, dass ich mich entscheiden muss zwischen der Palli und der "normalen Welt", aber ich kann eine Brücke bauen. Ich kann das, was ich dort lerne, mitnehmen in meine Realität. Seitdem priorisiere ich anders, wie und mit wem ich meine Zeit verbringen will und was mir wichtig ist.
Welche Bedürfnisse haben die Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen?
Das ist individuell und ändert sich stetig. Als ich im Hospiz in Berlin jemanden begleitet habe, haben wir zum Beispiel zwei bis drei Stunden nur zusammengesessen und Mühle gespielt oder wir haben über Politik und sein Leben geredet. In der Endphase habe ich neben seinem Bett gesessen und gemerkt, wie die Atmung ruhiger wurde, weil er gemerkt hat, dass jemand da ist. Wichtig ist, dass wir Sterbende nicht als Objekte wahrnehmen, sondern als Menschen, die Bedürfnisse haben. Natürlich haben sie auch das Bedürfnis nach Berührungen oder sexueller Nähe. Darüber wird kaum gesprochen, aber das ist wichtig, denn die Personen sind ja immer noch am Leben. Die wollen Mitgefühl, aber kein Mitleid. Sie wollen normal behandelt werden. Das fängt schon bei der Begegnung an, bei meiner Stimmlage und meiner Körperhaltung. Wenn wir mit Sterbenden in Kontakt treten, wird uns ein Spiegel vorgehalten: Uns wird bewusst, dass wir ebenfalls sterben werden.
Eine Tatsache, die viele Menschen gerne verdrängen. Was kann uns die Beschäftigung mit dem eigenen Tod in deinen Augen lehren?
Es ist so natürlich. Es gehört zum Leben dazu. Ich glaube, wenn Menschen den Tod und die eigene Sterblichkeit ausklammern, leben sie ganz oft an ihrem Leben vorbei. Es führt auch dazu, dass Menschen mehr konsumieren und damit ihre Ängste wegdrücken. Ich glaube, es würde weniger Macht- und Konkurrenzkämpfe geben, weil man viel eher hinterfragen würde, wieso wir uns bekämpfen. Wir würden feiner und behutsamer mit unseren Mitmenschen umgehen. Der Tod ist ein Teil von uns. Das zu akzeptieren und anzunehmen, macht das Leben wertvoll und gibt ihm erst Wertigkeit. Was wäre denn schon von Bedeutung, wenn wir ewig leben würden?
Du kommst den Menschen nahe, begleitest sie manchmal auch länger und baust Beziehungen zu ihnen auf. Wie gehst du mit den Todesfällen um?
Ich glaube, dass ich nur gut begleiten kann, wenn ich diese Nähe zulasse. Trotzdem habe ich gemerkt, dass ich das nicht mit nach Hause nehme. Der Weg zum Hospiz und zurück ist für mich wie eine Brücke, auf der ich noch darüber nachdenke. Ich habe mich immer von den Menschen so verabschieden können, dass es rund und stimmig für mich war. Das bedeutet nicht, dass ich diese Menschen vergessen werde. Sie begleiten mich weiterhin, sind Teil meines Lebenswegs und haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Natürlich bin ich auch traurig, aber ich will diese Gefühle nicht unterdrücken. Wenn ich traurig bin und weine, weil jemand gestorben ist, ist das völlig normal. Dadurch habe ich gelernt, die ganze Gefühlspalette, die wir in uns tragen, wertzuschätzen. Wenn es vermeintlich negative Gefühle sind, versuchen wir als Gesellschaft, so schnell wie möglich eine Lösung zu finden, damit es wieder besser wird. Aber diese Gefühle wollen da sein und gesehen werden – das ist so wichtig.
Gibt es Menschen aus der Sterbebegleitung, die dich besonders geprägt haben?
Das ist einerseits Sarah. Sie leidet an Kinderdemenz, einer lebensverkürzenden Erkrankung. Sarah lebt noch, sie ist 14, geistig aber auf dem Stand einer Sechsjährigen. Ich denke oft an sie. Sie ist eine Person, die mich immer wieder überrascht. Wobei ich denke, dass Kinder im Allgemeinen uns in vielen Lebenssituationen an die Hand nehmen und uns leiten. Am Anfang und am Ende des Lebens werden wir zu dem, was wir eigentlich sind: pure und weise Wesen. Auf dem Weg ins Erwachsenenalter verlieren wir das durch so viele gesellschaftliche Regeln, Schubladen und Erwartungshaltungen, die auf uns gedrückt werden. Sarah hat mich so oft an die Hand genommen und mir das Leben neu gezeigt.
In meinem Buch erzähle ich auch von Anna. Sie war Anfang 30, ich Anfang 20. Wir haben uns auf der Palli kennengelernt und sie war meine erste Begleitung. Wir haben uns oft getroffen, aber jedes Mal verabschiedet, weil wir dachten, dass wir uns nicht mehr sehen. Kurz vor ihrem Tod war ich bei ihr im Zimmer. Dann habe ich angefangen zu reden, auch zu weinen, weil ich es nicht begreifen konnte. Ich dachte, sie kann mich nicht mehr hören, das stimmte aber nicht. Ich habe meine Hände über ihre gelegt und auf einmal hat sie unsere Hände zusammen zu ihrem Herzen geführt und ganz fest an sich gedrückt. Das sind Momente, die kann man mit nichts aufwiegen, die sind so intensiv und so voller Wärme und Liebe. Liebe ist immer da und trägt uns durch solche Momente.
Welche Vorstellungen hast du von deinem eigenen Tod?
Ich würde am liebsten kompostiert werden. In den USA ist das schon lange möglich. Ich fände es cool, wenn es eine große, bunte Party wird und damit auch das Leben gefeiert wird. Ich habe das Gefühl, dass in anderen Kulturen diese Thematik ganz anders zelebriert wird. In Südafrika zum Beispiel wird eine Beerdigung größer gefeiert als jede Hochzeit. Es wird viel gegessen, gelacht, getrunken, aber auch viel geweint. Ich fände es schön, wenn es ein Fest wird, an dem sich an mich erinnert wird. Deswegen denke ich oft drüber nach: Was soll von mir bleiben? Was soll von mir erzählt werden? Was will ich schaffen? Welche Erinnerungen bleiben? Nach diesen Gedanken kann man sein Leben ausrichten.
Der Titel deines ersten Buches lautet "Wie mich die Begleitung Sterbender verändert". Kannst du kurz zusammenfassen, wie dich der Kontakt zu Sterbenden verändert hat?
Es hat mich grundlegend zum Positiven verändert. Es hat mich näher ans Leben gebracht. Für mich hat das Leben eine andere Ausrichtung bekommen. Die Zeit, die man hier hat, ist so kostbar und ich will mich auf das konzentrieren, was mir wichtig ist und nicht am Ende meines Lebens zurückblicken und sagen: "Hätte ich doch nur". Ich glaube, das Leben ist zu wertvoll, um Erwartungen zu erfüllen, die von außen kommen. Deswegen finde ich es so wichtig, den Tod ins Leben zu lassen, weil er ein elementarer Bestandteil unserer Existenz ist und das Leben nur reicher macht. Der Tod ist gesellschaftlich etwas Schweres und Dunkles, aber das muss er gar nicht sein.

Wie würdest du dir wünschen, dass wir als Gesellschaft mit dem Tod umgehen?
Dass wir ihn mehr in unser Leben integrieren. Ich bin dankbar, dass es Hospize und Palliativstationen gibt, gleichzeitig wird Sterben und Tod damit institutionalisiert und aus unserem Alltag weggeschoben. Das Sterben passiert nicht mitten im Leben, sondern außerhalb. Früher wurden die Menschen daheim noch aufgebahrt. Wir müssten das wieder mehr in unser Leben integrieren. Anfangen, darüber zu sprechen, und uns auszutauschen. Wenn ich mit Menschen über diese Themen rede, merke ich immer wieder, dass es ein großes Bedürfnis danach gibt. Damit macht man sich natürlich verletzlich, aber Stärke bedeutet, auch solche Emotionen zu zeigen und zuzulassen. Es braucht Mut, aber man muss diesen Schritt machen, wenn man gesellschaftlich eine Veränderung anstoßen will.
Der neue stern-Podcast "Die Suche nach dem guten Tod"
Das Thema Sterben wird auch im neuen stern-Podcast "Die Suche nach dem guten Tod" behandelt. In sieben Folgen begibt sich Host Lukas Sam Schreiber auf diese Suche für seine Mutter Claudia, die an Demenz erkrankt ist. Der Podcast "Die Suche nach dem guten Tod" erscheint jeden Donnerstag bei stern.de sowie bei AudioNow, Spotify, Apple Podcasts, Amazon Music und auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Hier erfahren Sie in einer Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie Sie Podcasts hören und abonnieren können.