"Leute, die nur von 9 bis 17 Uhr arbeiten, kann ich nicht ernst nehmen. Ich stehe jeden Tag um fünf Uhr auf, damit ich um viertel nach sechs im Büro bin. Dann ist noch nichts los, und ich kann in Ruhe arbeiten. Ich leite eine so genannte Task-Force, eine Gruppe von mehreren Anwälten und Betriebswirten, die je nach Auftrag zusammengestellt wird.
Unser Job besteht darin, für Kunden den Wert einer Firma zu prüfen, etwa im Vorfeld einer feindlichen Übernahme. Da ist jeder Tag Hunderttausende Euro wert. Der Kunde diktiert, wann die Prüfung abgeschlossen sein muss, und wir müssen das hinbekommen, notfalls von einem Tag auf den anderen.
Die Stimmung im Büro ist sehr gut, Intrigen untereinander kennen wir nicht. Alle sind Top-Leute. Wir sind in ständigem Wettlauf mit der Zeit, denn wenn wir den gesetzten Termin nicht schaffen, verlieren wir den Kunden an Konkurrenten, und der Wettbewerb ist mörderisch. In unseren Konferenzen fällt oft der Spruch: "Der Tag hat 24 Stunden, und wenn das nicht reicht, nehmen Sie die Nacht dazu!"
Pause mache ich nur mittags eine halbe Stunde, aber selbst dann werde ich schon unruhig - ich könnte ja einen wichtigen Anruf verpassen. Danach geht es durch bis zehn Uhr abends. Etwa dreimal in der Woche fliege ich ins europäische Ausland, immer morgens mit dem ersten Flieger hin und abends mit dem letzten zurück.
Samstags arbeite ich nur von neun bis 17 Uhr, den Sonntag versuche ich mir freizuhalten. Dann gehe ich meistens Golf spielen, das finde ich wunderbar entspannend. Alle Partner in der Kanzlei haben 15 Tage Urlaub im Jahr. Aber die nehme ich nicht alle. Länger als zwei Wochen kann ich nicht weg sein, dann brauche ich wieder die gesunde Büroluft. Oft muss ich einen Urlaub auch kurz vorher absagen. Meine Frau fährt dann allein mit meinem 17-jährigen Sohn. Sie ist das gewöhnt und akzeptiert, dass ich so viel arbeite.
Wie ich das alles schaffe?
Mit Psychopharmaka. Ich bin seit über 20 Jahren abhängig, erst von Valium, jetzt von anderen Benzodiazepinen. Angefangen hat es am Abend vor meinem ersten juristischen Staatsexamen. Ich war zwar gut vorbereitet, trotzdem hatte ich so große Prüfungsangst, dass ich total gezittert habe. In der Studentenverbindung, wo ich damals wohnte, gab es auch einen Arzt, der drückte mir eine Tablette Valium in die Hand. Danach konnte ich wunderbar schlafen, auch die Prüfung war kein Problem mehr. Bei der einen Tablette ist es erst mal geblieben – bis ich zwei Jahre später meine erste Stelle antrat, als Vorstandssekretär bei einer großen Bank. Jedes Mal, wenn ich vor dem Vorstand ein Referat halten sollte, war ich so nervös, dass ich dachte, ich schaffe es nicht. Ich habe mir gleich eine ganze Packung Valium verschreiben lassen.
Der Effekt war grandios. Alles ging plötzlich viel leichter. Ich hatte das Gefühl, der Vorstand kann mir gar nichts mehr. Immer häufiger nahm ich das Valium, bis zu 30 Tabletten in der Woche. Die Rezepte bekam ich problemlos, dabei half auch mein Doktortitel sehr. Allerdings bin ich nicht zu meinem Hausarzt gegangen, sondern habe mir immer einen neuen Arzt gesucht. Ich wusste genau, was ich erzählen muss, um das Rezept zu bekommen: dass ich so viel Stress habe und nicht schlafen kann.
Ein paar Jahre ging das so. Dann hatte ich eines Abends keine Tabletten mehr und tat vor Nervosität die ganze Nacht lang kein Auge zu. In diesem Moment wurde mir klar: "Jetzt bist du drauf." Die Einsicht hat aber zunächst nur dazu geführt, dass ich dafür sorgte, immer zwei Packungen Vorrat im Haus zu haben.
Mit der Zeit stieg die Dosis.
Um reibungslos funktionieren zu können, musste ich immer mehr Pillen nehmen. Nach drei Jahren war Schluss. Ich dachte, so geht das nicht mehr weiter. Ich ging zu meinem Hausarzt und erzählte ihm alles. Er wies mich sofort in eine Suchtklinik ein. Den Kollegen in der Kanzlei habe ich natürlich nichts erzählt. Zwei Wochen meiner Abwesenheit habe ich mithilfe meiner Urlaubstage organisiert, für die dritte habe ich Herzprobleme vorgeschoben.
Die Psychologen in der Klinik konnte ich nicht ernst nehmen. Natürlich haben die gesagt, dass ich meinen Stress reduzieren soll. Aber die arbeiten ja nur mit Annahmen, beweisen können sie nichts. Immerhin bin ich von den Tabletten runtergekommen. Drei Jahre blieb ich trocken. Ich wechselte die Kanzlei und stieg als Partner bei meiner jetzigen ein. Dann kam diese Dienstreise nach Shanghai. Ein sehr kniffliger Auftrag, es war nicht klar, ob wir das hinkriegen. Ich hatte noch eine angebrochene Packung Tabletten und dachte, nimm die mal mit, nur für alle Fälle. Bereits im Flugzeug habe ich die erste Pille geschluckt und dann jeden Morgen wieder eine.
Aber mir war klar, dass ich das eigentlich nicht mehr wollte, deshalb habe ich noch mal einen Versuch gestartet, davon loszukommen. Drei Wochen war ich wieder in einer Klinik. Die Patienten waren lauter hohe Tiere, Manager, Politiker, Leute, die man aus dem Fernsehen kennt. Drei Monate nach der Entlassung hatte ich eine Bandscheibenoperation. Der Arzt gab mir ein Medikament zur Muskelentspannung. Ich hatte ihm ausdrücklich gesagt, dass ich abhängig von Beruhigungsmitteln gewesen war. Trotzdem verschrieb er mir ein Benzodiazepin, und ich nahm das Mittel auch. Von da an war ich wieder drauf.
Heute nehme ich täglich fünf Tabletten Planum und rauche drei Schachteln Zigaretten. Mein Arzt hat mir jetzt noch ein Antidepressivum verschrieben. Ich habe zwar keine Depressionen, aber es wirkt ähnlich beruhigend, ich muss nur eine entsprechend hohe Dosis nehmen. Ich habe dadurch stark zugenommen. Wenn ich mal keine Tabletten nehme, bin ich sofort gereizt, kann mich nicht mehr konzentrieren. Dann passieren mir bei der Arbeit auch Fehler. Doch ich will auch den Kick immer wieder spüren, diese Euphorie, die man sonst nicht bekommt im Alltag. Der Vorteil an den Psychopharmaka ist, dass man mir nichts anmerkt. Alkohol ginge gar nicht, das würde der Kunde ja riechen. Aber so denkt er nur, der Herr Mayer ist souverän und locker.
Klar, ich würde gerne aufhören.
Meine Frau hat mich zu einer Selbsthilfegruppe mitgenommen. Aber das hat nichts gebracht. Ohne Tabletten würde ich meinen Alltag gar nicht schaffen. Warum ich nicht einfach kürzer trete? Finanziell könnte ich mir das leisten. Aber ich mag das Gefühl, mit am großen Rad zu drehen. Die Aufträge, die ich bearbeite, sind Ereignisse, über die manchmal sogar die "Tagesschau" berichtet. Da geht es auch um viele Arbeitsplätze. Meistens werden die nach einer Übernahme abgebaut, aber ich versuche immerhin, so viele wie möglich zu retten.
Vielleicht beruhige ich damit aber auch nur mein Gewissen. Es ist diese besondere Atmosphäre in den Vorstandsetagen, die mich fesselt. Wie distinguiert da miteinander umgegangen wird! Obwohl man als Jurist ja nie ganz dazugehört. Aber man hat auch eine gewisse Macht. Die brauchen uns.
Es ist vermutlich schwer
nachzuvollziehen, aber ich bin eigentlich ganz zufrieden mit meinem Leben. Nur meinem Sohn gegenüber quält mich mein Gewissen. Er beschwert sich manchmal, zum Beispiel, wenn ich nicht zum Elternabend komme. Einmal war ich da. Aber da wird nur gelabert! Na ja, und ein anderer Punkt ist auch nicht optimal: Ich habe nur wenige Freunde. Man zahlt schon einen Preis. Aber das ist es mir wert.
Einmal habe ich versucht, weniger zu arbeiten, nur von neun bis 19 Uhr. Das war vor zehn Jahren nach meinem Herzinfarkt. Aber es war ein furchtbares Gefühl, nicht mehr vollwertig einsetzbar zu sein. Die Kollegen haben auch oft komisch geguckt, wenn ich so früh gegangen bin. Nach einem halben Jahr bin ich wieder voll eingestiegen. Alle Teilhaber unserer Kanzlei, die älter als 45 sind, hatten bereits einen Infarkt, das gehört einfach dazu. Genauso wie Psychopharmaka. Da fällt schon öfter mal eine Packung aus den Akten. Alle wissen Bescheid, doch keiner sagt etwas. Von den 30 Leuten in unserer Kanzlei nehmen 20 Beruhigungsmittel. Die restlichen zehn trinken.