Fünf ältere Damen sitzen bei einer Orangensaftschorle im Café vom "Haus am Österberg", einem Altenpflegeheim in Tübingen. Irmgard Dümmel, 61, kennt alle Einzelheiten des Falles Bettina Schardt, jener Rentnerin, der der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch beim Sterben half - und deren Tod er gefilmt hat. "Nein danke!", sagt die rüstige Rentnerin von der Schwäbischen Alb, die wegen Problemen mit den Halswirbeln im Rollstuhl gefesselt ist. Nie und nimmer würde sie sich so einem anvertrauen. Sie habe ihre Patientenverfügung schon lange unterschrieben. "Keine künstliche Beatmung" - steht darin. Wenn es so weit ist, wolle sie lieber sterben - aber auf natürlichem Wege.
Die anderen Frauen pflichten ihr bei. Auch sie haben alle eine Patientenverfügung. Dennoch machen sie sich Sorgen, ob der letzte Wille im Ernstfall auch wirklich respektiert wird. "Sterbehilfe zu leisten, widerspricht der Auffassung der Ärzte, das Leben zu erhalten", sagt die 82-jährige Agneta Jantzen. Doch ihr und den anderen Frauen ist es wichtig, dass ihr Wunsch respektiert wird. Sie wollen selber bestimmen können, wann sie in den Tod gehen.
Agneta Jantzen wohnt seit einem halben Jahr im Altenpflegeheim. Der Schritt in die betreute Einrichtung war ihr sehr schwer gefallen - in diesem Punkt kann sie die sterbewillige Rentnerin aus Würzburg verstehen. "Auch ich hatte eine völlig falsche Vorstellung vom Pflegeheim", sagt sie. Sie hatte Angst davor, einsam zu sein. Doch inzwischen fühlt sich Agneta Jantzen wohl, trifft sich mit anderen Bewohnern zur Singstunde oder geht in den Literaturkreis.
"Profitgeil" und "eiskalt"
Die Frauen sind sich einig, dass die Rentnerin aus Würzburg Opfer einer grotesken Inszenierung geworden sei. Kusch habe die einsame Frau für seine Zwecke ausgenutzt. "Profitgeil", "eiskalt", ein Ungeheuer, das "über Leichen geht" - so sehen die Bewohnerinnen des Altenpflegeheims den ehemaligen Hamburger Justizsenator Roger Kusch. "Woher nimmt er das Recht, über das Leben dieser Frau zu verfügen?", empört sich die 71-jährige katholische Schwester Anna-Maria, eine Karmeliterin, die zur Kurzzeitpflege eingezogen ist. Die Frau sei schlecht aufgeklärt gewesen. Aus Angst vor Schmerzen und dem Pflegeheim wollte sie lieber vorher sterben, dabei sei durch eine gute Pflege heute viel möglich. "Eine gute Beratung hätte ihr das Leben gerettet", ist sie überzeugt.
Anneliese Dittrich, 84, hatte jahrelang Weichteilrheuma, jede Bewegung war die Hölle. "Ich wollte nicht mehr leben", sagt sie. "Ich wollte nur noch, dass es aufhört." Ein Arzt konnte ihr mit Medikamenten helfen und ihr die Lebensfreude wieder zurückgeben. Der Wunsch nach dem Tod war verschwunden, doch seitdem hat sie Verständnis dafür, wenn Schwerkranke in ihrer Not und Verzweiflung ihrem Leiden ein Ende setzen wollen. "Jeder muss für sich selbst bestimmen, wann er Schluss machen will", sagt sie.
Doch was, wenn der Mensch seinen Willen nicht mehr äußern kann? Irmgard Dümmel lernte bei einem Krankenhausaufenthalt einen Krebskranken im Endstadium kennen, der sich weder bewegen noch sprechen konnte. "Seine Augen haben uns angefleht, ihn zu erlösen", sagt sie. Doch die Ehefrau wolle die Geräte nicht abschalten lassen.

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"Wir rufen doch nicht noch ein Taxi!"
Eine "Tötungsmaschine" wie Kusch sie erfunden hat, würde die robuste Frau im Rollstuhl dennoch nicht akzeptieren. "So etwas gehört verboten!" sagt sie energisch. Aktive Sterbehilfe bedeute immer gleichzeitig die Gefahr des Missbrauchs. Von kommerziellen Sterbehilfevereinen wie Dignitas in der Schweiz, die Menschen ausnehmen würden, halte sie nichts.
"Wir sind froh über jeden Suizidversuch, der sich verhindern lässt", sagt Heimleiterin Angela Krohmer. "Tötung auf Verlangen" lehnt sie strikt ab. Angela Krohmer setzt sich dagegen für palliative Pflege im Haus ein, die den Sterbeprozess annehme, aber lebensbejahend sei. Medikamente sollen für Schmerzfreiheit sorgen, doch habe jeder Bewohner jederzeit das Recht, alle Behandlungen abzulehnen. Wichtig sei, die Ängste und Vorlieben der Bewohner gut zu kennen. Wenn jemand klassische Musik liebt oder gern im Garten ist, könne man das in die Behandlung mit einbeziehen.
"Wir wollen auch die Lebensqualität der Angehörigen verbessern" sagt sie. Beispielsweise, indem sie in die Pflege einbezogen werden und sich von Ärzten und Hospizmitarbeitern begleitet fühlten. "Roger Kusch missbraucht unsere Arbeit, um Angst zu machen" sagt Angela Krohmer. Die alte Frau hätte noch eine Zukunft gehabt, wenn sie die richtigen Berater gehabt hätte. Krohmer vergleicht das mit dem Leben in einem Mietshaus: "Wenn jemand unbedingt ausziehen will, dann kann man das nicht verhindern. Aber wir rufen dann nicht auch noch ein Taxi."