Editorial Demokratie braucht Gewaltverzicht

Den Ort, an dem der US-Präsident am 1. Mai 2003 das Ende des Irak-Kriegs verkündete, hatten seine PR-Strategen überlegt gewählt. Es war nicht irgendein Flugzeugträger, es war die "USS Abraham Lincoln", benannt nach dem Mann, der als Lichtgestalt im Kampf gegen Sklaverei und für Menschenrechte in die Geschichte eingegangen ist.

Liebe stern-Leser!

Den Ort, an dem der US-Präsident am 1. Mai 2003 das Ende des Irak-Kriegs verkündete, hatten seine PR-Strategen überlegt gewählt. Es war nicht irgendein Flugzeugträger, es war die "USS Abraham Lincoln", benannt nach dem Mann, der als Lichtgestalt im Kampf gegen Sklaverei und für Menschenrechte in die Geschichte eingegangen ist. In dieser Tradition sah sich auch George W. Bush: "Wir achten unsere eigenen Bürgerrechte", schallte es über das Trägerdeck, "deshalb treten wir auch für die Freiheit anderer ein!"

Jetzt, ein Jahr später,

rauben die Foltervorwürfe dem Oberbefehlshaber und seinem britischen Vasallen in der Downing Street den letzten Rest von Glaubwürdigkeit, jetzt wurden die selbst ernannten Menschenrechtsexporteure Bush und Blair zur Achse der Bösen (Seite 28). Der US-Präsident ist moralisch bankrott. Freiheit und Demokratie in den Irak zu bringen war schließlich die einzig verbliebene Begründung für den Krieg. Dass es eine der ursprünglichen Ideen der Demokratie war, das Zusammenleben einer Gesellschaft auf der Grundlage von Gewaltverzicht zu organisieren, scheint irgendwie in Vergessenheit geraten zu sein. Ebenso verheerend ist, dass sich nun die arabische Welt in ihren Vorurteilen über Amerika bestätigt fühlt.

Was ist da schief gelaufen in einer Armee, die im Kampf für Freiheit und Menschenrechte schon viel Blut geopfert hat? Wie ist es möglich, dass uniformierte Bürger eines tief religiösen Landes, das bei jeder Gelegenheit in "God bless America"-Rufe ausbricht, plötzlich eine Henkermentalität entwickeln? Die mittlerweile angeklagte Militärpolizistin Sabrina Harman entschuldigte sich gegenüber der "Washington Post", niemand habe ihre Einheit über die Genfer Konvention aufgeklärt. Muss ein Soldat die Genfer Konvention gelesen haben, um eine Misshandlung als solche zu erkennen? Dachten die Soldaten, es gehöre zum alltäglichen Aufseher-Repertoire, einen Gefangenen nackt an der Hundeleine im Zellengang auszuführen? Jeder Soldat wird in seinem Fahneneid auf die US-Verfassung vereidigt. Die Lektüre der zehn Artikel der amerikanischen "Bill of Rights" dauert fünf Minuten. Spätestens danach weiß man, was menschenverachtend, entwürdigend und pervers ist. Aber wenn schon der Verteidigungsminister öffentlich erklärt, "Schlafentzug, Änderung der Ernährung" und das "Verharren in unangenehmen Stellungen" seien gerechtfertigte Verhörmethoden, dann ist auch die Hundeleine rasch zur Hand.

Eine Berufsarmee funktioniert wie eine geschlossene Anstalt mit eigenen Regeln, eine Art Sonderzone, die sich dem zivilen Staatswesen, dessen Werten und Kontrolle entzieht. Sie ist nicht durchwirkt von Wehrpflichtigen, die dem System Dienen und Befehlen nicht bis zur Pensionsgrenze unterworfen sind.

Wehrpflichtige wirken in einer Armee als verlängerter Arm der Zivilgesellschaft, als Hemmschwelle gegen Verrohungstendenzen von Längerdienenden. Die Auswüchse in der US-Armee werden daher auch in Deutschland beim Pro & Contra zur Wehrpflichtarmee eine Rolle spielen.

Einstweilen aber

sind die Folgen der Folter für die USA brisanter als die Ursachen. Die bislang veröffentlichten Bilder sehen aus, als seien sie auf einer feucht- fröhlichen High-School-Party entstanden, die dummerweise etwas außer Kontrolle geraten ist. Ungezwungen und frei von jeglichem Unrechtsbewusstsein. Und wahrscheinlich hat es das wirklich nicht gegeben, weil die Unmenschlichkeiten vermutlich auf höheren Befehl geschahen. Angeblich 1800 Folterbilder, dazu Videos, - die schiere Masse sieht nicht nach dem Privatvergnügen einiger unbedarfter Gefreiter aus. Auch die zu trauriger Berühmtheit gelangte Soldatin Lynndie England (stern Nr. 21/2004) beruft sich auf die Anordnung "von höheren Rängen".

Die Fragen lauten nun: Wer wusste wann wie viel? Wer gab die Anweisung, derartige Mittel einzusetzen? Niemand erwartet allerdings, dass sich die Bush-Administration vor der Präsidentschaftswahl im November mit einem gnadenlosen Selbstreinigungsprozess um neue Glaubwürdigkeit bemüht. Die Antworten wird die amerikanische Presse finden müssen.

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

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