Editorial Die Qual der Wahl

Liebe stern-Leser!

In drei Wochen ist Wahl, und noch immer weiß die Hälfte der Bundesbürger nicht, was sie machen soll: Ein Viertel ist wenig interessiert und wird wohl zu Hause bleiben. Ein weiteres Viertel schwankt: Trotz der SPD wieder Schröder wählen oder trotz Merkel diesmal CDU?

Die Menschen sind hin- und hergerissen. Die Mehrheit findet wesentliche Punkte des SPD-Wahlmanifests wie zum Beispiel Reichensteuer, Bürgerversicherung und Mindestlöhne richtig, will aber gleichwohl Schwarz-Gelb die Stimme geben. Zugleich hält die Mehrheit wesentliche CDU-Programmpunkte wie höhere Mehrwertsteuer und Lockerung des Kündigungsschutzes für falsch, möchte aber dennoch nicht für Rot-Grün votieren.

Wie aussichtslos die Lage der SPD ist, zeigt auch folgende Erkenntnis der Wahlforscher: Fast 80 Prozent der CDU/CSU-Wähler von 2002 sind wild entschlossen, auch diesmal Schwarz zu wählen. Der SPD will nur die Hälfte der Wähler von 2002 treu bleiben. Ein Viertel ist abgewandert zu anderen Parteien, ein Viertel schwankt noch.

Hilfe bei der Entscheidung bietet vielleicht der "Wahlomat", den die Bundeszentrale für politische Bildung entworfen hat. Mehr als drei Millionen Nutzer probierten ihn vor der letzten Bundestagswahl im Internet aus. Die neue Version zur Wahl 2005 finden Sie vorab im stern (Seite 24). Der Wahlomat funktioniert wie ein politischer Psycho-Test: Bei 30 wichtigen Thesen können Sie entscheiden, ob Sie ihnen zustimmen, sie ablehnen oder neutral bleiben. Die Auswertung zeigt dann, mit welcher Partei Sie inhaltlich am meisten übereinstimmen.

stern-Redakteur Markus Grill, 37, durfte den Wahlomaten am vergangenen Freitag als erster Journalist in Deutschland testen. Seine Erfahrung werden viele dieses Jahr teilen: Inhaltlich bescheinigte ihm der Test die größte Übereinstimmung mit der SPD - aber wählen will er die Partei dennoch nicht, "wegen der Mischung aus Leichtfertigkeit und Hybris, die die ganze rot-grüne Reformpolitik auszeichnet".

Die stern-Redakteure Ulrike von Bülow, 32, und Alexander Kühn, 29, verbringen von Berufs wegen viel Zeit vor dem Fernseher. Sie arbeiten sich Woche für Woche durch VHS- und DVD-Stapel mit neuen Shows, Serien und Filmen, die ihnen die Sender vorab schicken, darunter erschreckend viel billig und lieblos produzierter Schrott. Für die Titelgeschichte dieser Woche besuchten sie Menschen, die ihr Gerät abgeschafft haben oder es einfach nicht mehr einschalten - und seither glücklicher sind. So die Familie Fontaine aus Hamburg: Im März beschloss Vater Johann von heute auf morgen, dass ein Leben ohne Fernsehen möglich sein muss. Es gab Streit, vor allem die 16-jährige Tochter Maëlle wollte weiterhin "Marienhof" und "GZSZ" schauen. Heute vermisst sie nichts mehr. Stattdessen freut sie sich über mehr Zeit für ihre Freunde, einfach so "zum Quatschen".

Erstaunt waren die beiden stern-Journalisten, wie offen auch TV-Macher über ihren Fernsehfrust reden, über Kostendruck, Quotenwahn und den Mangel an guten Ideen. "Die Sender haben keinen Mut, sie wagen nichts mehr", sagt Frank Elstner, 63, der Erfinder von "Wetten, dass..?". Doch er macht auch Hoffnung: "Fernsehen kann heute spannender sein als je zuvor. Wir müssen uns nur mehr anstrengen."

Herzlichst Ihr
Thomas Osterkorn

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