Editorial Die verlorene Ehre der Susanne Osthoff

Liebe stern-Leser!

Viele haben am Verstand von Susanne Osthoff gezweifelt, als sie hörten, die entführte Archäologin wolle nach ihrer Freilassung wieder zurück in den Irak. Dass sie falsch zitiert wurde, ging im folgenden Aufschrei der Empörung beinahe unter. Und als Susanne Osthoff im deutschen Fernsehen mit Schleier auftrat und verworrene Sätze sagte, war für die meisten klar: Die Frau spinnt.

Wir haben mit Susanne Osthoff vergangenes Wochenende gesprochen. Sie hat das Trauma der Entführung noch nicht verarbeitet, aber doch schon ein wenig Distanz zum Geschehen. Sie stand nicht mehr unter dem Einfluss von Medikamenten, war sehr konzentriert. Eine willensstarke Frau, die immer ihren eigenen Weg ging. Während der Entführung aber musste sie auf brutale Weise erfahren, wie es ist, wenn man nichts mehr kontrollieren kann.

Am vergangenen Freitag hatte sie sich bei stern-Reporter Christoph Reuter gemeldet. Die beiden kennen sich aus Bagdad, Reuter hatte sie vor zwei Monaten dort zuletzt gesehen und damals mit ihr verabredet, ein Porträt über sie zu schreiben. Dann kam die Entführung dazwischen. Zusammen mit stern-Auslandsressortchef Peter Meroth und stern-Fotograf Volker Hinz flog Reuter nun nach Bahrain, einen der reichen arabischen Golfstaaten. Dort trafen sie eine Frau, die sich vieles von der Seele reden musste. Elf Stunden dauerte das Interview mit Susanne Osthoff am vergangenen Sonntag, von 13 Uhr bis Mitternacht, unterbrochen nur von einem Fototermin an der Großen Moschee, kurz vor Sonnenuntergang.

Die Archäologin berichtete von ihrer 24-tägigen Geiselhaft im Irak und vom schwierigen Verhältnis zu ihrer Familie. Zu spüren ist ihr Drang, vieles richtig zu stellen. Sie fürchtet nicht nur um ihren Ruf in Deutschland, sondern vor allem auch in der arabischen Welt, wo sie einflussreiche Freunde habe. Dort, sagt sie, werde jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Deshalb dauerte die Autorisierung des Interview-Textes am Montag noch einmal viele Stunden. Sie rang mit den stern-Reportern um jede Formulierung.

Ihr Misstrauen gegenüber Medien kommt nicht von ungefähr. Der Ansturm der Presse hat sie und auch ihre Familie völlig überrollt. Vieles, was geschrieben und gesendet wurde, war frei erfunden. Manchmal hatte man sogar den Eindruck, sie sei gar nicht Opfer, sondern Täterin.

In seinem Buch "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" prangerte Heinrich Böll 1974 an, wie die Boulevardpresse mit einer Frau umgeht, die bei einer Faschingsparty ahnungslos einen Terroristen kennen lernte. In einem Interview sagte er dazu: "Die Gewalt von Worten kann manchmal schlimmer sein als die von Ohrfeigen und Pistolen."

Herzlichst Ihr

Thomas Osterkorn

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