Liebe stern-Leser!
Noch fünf Wochen vor der Wahl hatte sich Gerhard Schröder beim Thema Steuererhöhungen festgelegt: „Das kann man ausschließen!“ Eine glatte Lüge, für die der Bürger jetzt zahlen muss. Nicht die erste dieser Art in der Geschichte unserer Demokratie, aber wir, das dumme Stimmvieh, glauben halt doch immer wieder an das Gute im Menschen, selbst wenn er Politiker ist. Doch auch die Dummen können klüger werden. Vielleicht wird die Quittung für diese Volte schon bei den anstehenden Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen präsentiert. Immerhin beinahe ein Drittel der gutgläubigen Rot-Grün-Jünger fühlt sich laut einer Forsa-Umfrage hereingelegt. Ein aufgebrachter Wähler formulierte Ende vergangener Woche in einem Internetforum, dass „die Entscheidung, SPD zu wählen, der Wahl des Metzgers durch das Schwein gleichkommt“. Darüber hinaus bleibt Rot-Grün allerdings streng bei der Wahrheit: Hatte Schröder vor der Wahl etwa einen tief greifenden Wandel des deutschen Sozialstaates angekündigt? Nein. Außer einer verbesserten Kinderbetreuung, dem Hartz-Projekt und der Abstinenz von einem kriegerischen Irak-Abenteuer wurde nichts versprochen – und das wird jetzt (leider) gehalten. Sarkastisch könnte man sagen, dass Rot-Grün den Auftrag erhielt, ansonsten nichts Gravierendes zu ändern. Aber auch die Hoffnung auf ein Weiter-so blieb unerfüllt. Und nicht wenige aus dem Fanclub des Kanzlers hatten insgeheim darauf gesetzt, dass der anschließend doch noch den Mut zu umwälzenden Reformen finden könnte. Damit macht sich selbst in Teilen seiner eigenen Klientel Enttäuschung über den kleinmütigen Koalitionsvertrag breit: dass sich die Akteure mit der „Aktion Löcherstopfen“ begnügten. Dass sie nur ein paar Klötzchen hin und her schoben, und auch die nur zum Teil in die richtige Richtung. Am Ende blieb mutloser Murks mit dem Wirkungsgrad eines löchrigen Wasserkessels.
Wachstum fördernde Impulse? Da fuhren die Koalitionäre mal eben mit den Fingern über die Konjunkturkurven der vergangenen Jahrzehnte und stellten fest, dass es ja immer wieder aufwärts ging. Irgendwann. Hoffentlich 2004. Das könnte ja vielleicht reichen bis zur Wahl 2006. Dann könnte der Kanzler wieder protzen: „Dieser Aufschwung ist mein Aufschwung!“ Ziemlich armselig, dass dieser Regierung nichts als das Prinzip Hoffnung einfällt, wenn es um Wachstum und wirtschaftliche Dynamik geht! Natürlich kommt es gut an, wenn man in schlechten Zeiten wie diesen die Illusion aufrechterhält, weiterhin einen Wohlfahrtsstaat organisieren zu können. Aber der Wähler ahnt, dass er in einem Kartenhaus lebt. Kann es sein, dass das Volk über alle Parteigrenzen hinweg reformbereiter ist, als sich seine ängstlichen Vertreter getrauen? Dass es Denkanstöße vermisst, wie man die Sozialsysteme auf neue tragfähige Säulen stellt (Seite 36 der Printausgabe)? Wie man nicht nur ewig die Mittelschicht abkassiert, um den Etat zu sanieren, sondern wie man mehr Beschäftigung schaffen und die wirklich Bedürftigen vernünftig ausstatten kann? Der Eindruck verfestigt sich, dass es sich der Kanzler mit den Seinen in Berlin bequem einrichtet. Das liegt auch an dreisten Spitzenfunktionären wie Olaf Scholz, immerhin neuer SPD-Generalsekretär, der die Reporterfrage im ZDF nach wirklichen Umwälzungen allen Ernstes so beantwortete: „Die ganz großen Reformen haben wir in der letzten Legislaturperiode gemacht.“ Er hätte auch sagen können: Wir standen am Abgrund, jetzt sind wir einen Schritt weiter.
PS: Um Missverständnissen vorzubeugen, dies ist kein nachträgliches Plädoyer für Stoiber. Der hat Glück, denn er muss nicht beweisen, dass er es besser gekonnt hätte.
Herzlichst Ihr
Andreas Petzold