Editorial Revolte gegen das spießige Nachkriegsdeutschland

Liebe stern-Leser!

Die 68er sind schuld an fast allem, was heute schiefläuft in diesem Land. Da sind sich Eva Herman, Kai Diekmann und Edmund Stoiber ganz einig. Sie hätten praktisch alle Werte abgeschafft, beklagte die einstige TV-Ansagerin, kurz bevor sie als verbale Geisterfahrerin auf Hitlers Autobahn ins Schleudern kam. Der "Bild"-Chefredakteur beschreibt in seinem neuen Buch 1968 als "Epochenbruch in Richtung Egozentrik, Mittelmaß und Faulheit". Und der scheidende CSU-Chef schlug in die gleiche Kerbe: "Ausdauer, Umgangsformen, Selbstbeherrschung - alles wurde als Unterdrückung abgelehnt", erregte sich Stoiber in seiner Abschiedsrede - ganz im Geiste seines Ziehvaters Franz Josef Strauß. Für den waren die 68er "diese verdreckten Vietcong- Anhänger, die da öffentlich Geschlechtsverkehr treiben". 40 Jahre sind bald vergangen, doch je länger die Ereignisse zurückliegen, umso mehr ist umkämpft und umstritten, umso vehementer wird verdammt und auch verklärt, was damals wirklich geschah. Wer die 68er reduziert auf die wenigen Tausend, die in Deutschland auf die Barrikaden gingen, der tut sich heute leicht mit der Feststellung, sie seien politisch gescheitert - zumal bei vielen der Freiheitskampf rasch in extremistischen Splittergruppen endete und bei einigen sogar im Wahnsinn des Terrorismus.

Wer die 68er aber begreift als Generation der zwischen 1940 und 1950 Geborenen, die rund um den Erdball eine Welle von kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen auslösten oder sich von ihr mitreißen ließen, der muss feststellen: Die 68er haben die Welt verändert, und keineswegs nur zum Schlechteren. In den USA steht 1968 vor allem für den Protest gegen den schmutzigen Krieg in Vietnam und gegen die Rassentrennung. In Deutschland war 1968 auch eine Revolte gegen das autoritäre, spießige Klima der Nachkriegszeit, eine überfällige Distanzierung von den Nazi-Verstrickungen der Väter-Generation. Es war ein Aufstand gegen den Bildungsnotstand an den Universitäten, wo sich die Zahl der Studenten binnen zehn Jahren fast verdoppelt hatte, bei den Professoren aber immer noch "unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren" hing. 1968 war auch Widerstand gegen die Notstandsgesetze, die eine Einschränkung der Grundrechte und den Einsatz der Bundeswehr im Inneren vorsahen. Und 1968 war Protest gegen die hasserfüllten Berichte der Springer-Presse, allen voran von "Bild", die Studenten als "langbehaarte Affen" beschrieb und "Polizeihiebe auf Krawallköpfe" empfahl, "um den möglicherweise doch vorhandenen Grips locker zu machen".

Ein halbes Jahr später erschoss ein Polizist Benno Ohnesorg, und im Jahr darauf streckte ein "Bild"-Leser Rudi Dutschke mit drei Kugeln nieder. Einem Großteil der 68er-Generation ging es allerdings gar nicht um Revolution und Klassenkampf, sondern vor allem um Sex, Drugs und Rock’n’Roll. Das alles beschreibt der stern in einer achtteiligen Serie. Dazu haben wir viele Prominente aus Politik und Gesellschaft gebeten, uns zu schreiben, wie sie 1968 erlebt haben, und alte Fotos von sich mitzuschicken. Eine erste Auswahl sehen Sie in diesem Heft. Da darf auch der Chefredakteur nicht kneifen. Leider kann ich, Ende 1953 geboren, kaum Erinnerungen beisteuern. Ich kam damals gerade aus einem Jesuiteninternat in Österreich nach Norddeutschland, weil die Familie umgezogen war, und fand es viel aufregender, auf einmal Mädchen in der Klasse zu haben und lange Haare zu tragen, als Revolution zu machen.

Herzlichst Ihr

Thomas Osterkorn

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