Erste Trans-Abgeordnete Tessa Ganserer: "Transgeschlechtliche Menschen werden als Witzfiguren dargestellt"

Deutschlands erste transgeschlechtliche Abgeordnete
Grünenpolitikerin Tessa Ganserer. Abgeordnete der AfD verweigern, sie als Frau anzusprechen. 
© Dwi Anoraganingrum/Future Image
Tessa Ganserer ist eine von zwei transgeschlechtlichen Abgeordneten im deutschen Bundestag. Im Interview spricht sie über ihren politischen Werdegang, Ausgrenzung und das neue Selbstbestimmungsgesetz. Nur über Alice Schwarzer will sie nie wieder sprechen.

Frau Ganserer, Sie waren die erste Trans-Frau in einem deutschen Parlament und gelten heute als queere Identifikationsfigur im Bundestag. Wie wichtig war ihr Coming Out für Ihre persönliche Politisierung?
Ich persönlich würde gerne weniger von Trans-Identität sprechen, weil es allzu oft zur Stigmatisierung eingesetzt wird. Damit wird immer noch der Eindruck erweckt, das seien zwei verschiedene Paar Schuhe: hier die vermeintlich biologischen, da die transgeschlechtlichen Frauen. Dabei ist die Wissenschaft viel weiter, Geschlecht geht über körperliche Merkmale weit hinaus. Zu Ihrer Frage: Ich komme aus einer einfachen, nicht sonderlich politischen Arbeiterfamilie aus dem bayerischen Wald. Mich berührten als Kind die großen Umweltthemen der Zeit. Waldsterben, saurer Regen, Tschernobyl. Das hat mich geprägt. 

Wann war Ihnen klar, dass Sie sich selbst engagieren wollen?
Die erste Bundestagswahl, bei der ich mitwählen durfte, war 1998. Schon zuvor hatte ich mich brennend für Politik interessiert. Mir reichte das nicht, einfach nur die Stimme abzugeben. Aufgrund der Umweltthemen, aber auch der gesellschaftspolitischen Ansätze war immer klar, dass ich bei den Grünen aktiv sein will. 

Ich bin nicht naiv. Mir war klar, dass sich der Fokus verändern würde, sobald ich mich oute.

Wann wurden queere Themen wichtig?
Als ich 2013 in den bayerischen Landtag gewählt wurde, habe ich erst einmal die Mobilitätspolitik mitgestaltet. Ich habe Forstwirtschaft studiert, weshalb für mich die Zerschlagung und Privatisierung der bayerischen Staatsforste durch den damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber ein wichtiges Thema waren. Damals wäre mir nichts lieber gewesen, als mich auf diese Umweltthemen zu konzentrieren. Aber ich bin nicht naiv. Mir war klar, dass sich der Fokus verändern würde, sobald ich mich oute.

Was 2019 passierte und weltweit für Aufsehen sorgte.
Bei meiner Pressekonferenz im Landtag waren ausländische Medien vertreten. Ich bekam viele persönliche Zuschriften, tatsächlich aus der ganzen Welt. Und viele Menschen ermunterten mich, in die Bundespolitik zu gehen. Mir war klar, dass ich für den Bundestag kandidieren muss, weil dort über unsere Rechte entschieden wird. 

War Ihnen von Anfang an bewusst, wie massiv auch die Ausgrenzung sein würde? Bis heute weigern sich AfD-Abgeordnete, Sie als Frau anzusprechen.
Dieses Ausmaß bleibt bis heute schwer vorstellbar. Aber natürlich war mir klar, dass ich Hass ausgesetzt sein würde, weshalb ich mir viele Jahre vorgemacht hatte, an einem Outing und einer Transition vorbeizukommen. Als ich die Pressekonferenz gab, war es mir bereits egal, ob meine politische Karriere daran scheitern könnte. Menschenfeindlichkeit anderer darf einen selbst nicht leiten. Ich sehe es als wichtigste Aufgabe einer Politikerin, Haltung zu leben und Akzeptanz vorzuleben. Aber das reicht nicht, wir müssen strukturelle Diskriminierung in Recht und Gesetz abschaffen. Und das ist es, was wir mit dem Selbstbestimmungsgesetz gerade tun. 

trans Politikerin Ganserer
Tessa Ganserer mit grünen Spitzenpolitikerinnen Ricarda Lang und Katharina Fegebank auf dem Hamburger CSD 2023

Ältere Feministinnen wie Alice Schwarzer kritisieren das Selbstbestimmungsgesetz und werden dafür als TERF gebrandmarkt – was für „Trans Exclusionary Radical Feminists“ steht, also für Feministinnen, die Trans-Frauen ausschließen. Versuchen Sie, die Argumente dieser Menschen zu verstehen?
Zu Alice Schwarzer äußere ich mich nicht mehr. 

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Es gibt Ängste in der Bevölkerung, weil das Einzige, das heute von Bestand zu sein scheint, der Wandel ist.

Aber sind denn die Bürger und Bürgerinnen ausreichend mitgenommen worden, was die Entstehung und Ausgestaltung dieses Gesetz betrifft?
Ich verstehe, dass es für manche Menschen eine Herausforderung ist, ihr binäres Geschlechterbild aufzugeben. Aber nach fast einem halben Jahrhundert stringenter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtshofes zu Gunsten von transgeschlechtlichen Menschen, der eindeutigen Resolution des Europarats, Personenstandsänderung ohne vorherige psychologische Begutachtung umzusetzen, will ich keine Grundrechte zur Debatte gestellt wissen. Es gibt Ängste in der Bevölkerung, weil das Einzige, das heute von Bestand zu sein scheint, der Wandel ist. Aber eigentlich steht alles bereits dazu im Grundgesetz, wir brauchen keine öffentliche Debatte mehr, ob der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ wirklich für alle gelten soll.

Zurzeit gibt es einen deutlich spürbaren Backlash. Gender-Sternchen verschwinden aus Schulen und Behörden, Prominente schimpfen gegen die Woke-Bewegung. Das muss Ihnen Anlass zur Sorge sein.
Ich bezweifle, dass diese Menschen so viele sind, wie es möglicherweise den Anschein macht. Kritische Stimmen werden medial gerne überhöht. Ich sehe keine Spaltung in der Gesellschaft, sondern einfach eine breite Debatte. Aber es fällt mir schwer zu begreifen, wie jemand nachweislich unbegründete Ängste bewusst schürt, etwa die, es könnte zu einem Missbrauch des Selbstbestimmungsrechts kommen – während wir gleichzeitig ein Riesenproblem an echten Übergriffen haben, an sexualisierte Gewalt gegenüber weiblich gelesenen Personen durch Männer und eine beängstigende Rate an Femiziden. Darüber sollten wir sprechen. 

In manchen amerikanischen Bundesstaaten und auch Italien werden die Rechte von transgeschlechtlichen Menschen wieder beschnitten. Wie sehr ängstigt Sie das?
Da wird von republikanischen und rechtspopulistischen Politikern absichtlich mit Ängsten gespielt, um Hass zu schüren. Es ist eine extrem bedenkliche und traurige Entwicklung. Da lohnt sich die Analyse von Neil Datta, dem Gründer des europäischen parlamentarischen Forums für Bevölkerung und Entwicklung in Brüssel. Er hat Geldströme analysiert und aufgedeckt, dass aus Russland aber auch den USA hunderte Millionen nach Europa geflossen sind, um antifeministische und ultrakonservative Gruppierungen zu fördern. Insofern sehe ich es mit Sorge, wenn namhafte CSU-Politiker nach Florida reisen und auf Kuschelkurs mit Republikanern sind, die transgeschlechtliche Menschen systematisch aus der Öffentlichkeit verbannen wollen. Ebenso die unglückselige Allianz mit Viktor Orbán. 

Alle Frauen haben Schutz verdient, zumal wenn sie von Männern Gewalt erfahren haben, egal ob trans oder cis.

Wenn das geschlechtliche Spektrum wirklich so vielfältig ist, wie Sie das sagen und sich wünschen: Warum soll es dann ein Problem sein, wenn sich cis Frauen geschützte Räume wünschen, wo keine Menschen mit Penis Zugang haben?
Waren Sie schon einmal in einem Frauenhaus? Da kann man nicht einfach so reinspazieren, da wird sehr genau geschaut, wer reindarf. Aber gleichzeitig haben alle Frauen Schutz verdient, zumal wenn sie von Männern Gewalt erfahren haben, egal ob trans oder cis. Diese Entscheidung treffen Frauenhäuser autonom. Ich verstehe nicht, dass Sie als Journalist solche Ängste schüren und dem immer wieder eine Plattform geben. Ich empfehle Ihnen, mit Frauenhäusern zu sprechen, dann werden Sie schnell sehen, dass diese Fragen die kleinsten Probleme sind. Man kann doch nicht aufgrund mancher Einzelfälle die Grundrechte infrage stellen.

Sehen Sie transgeschlechtliche Menschen in den Medien falsch dargestellt?
Das ist doch offensichtlich. Vor allem in fiktionalen Serien sind es immer die gleichen Narrative. Transgeschlechtliche Menschen werden nicht ernstgenommen, werden als Witzfiguren dargestellt oder als Opfer. Oft sind es nur tragische Schicksale, die dann im Rotlichtmilieu enden. Wenn sie nicht umgebracht werden, dann werden sie auch gerne als Psychopathinnen dargestellt. Diese Stereotype sind leider in unserer Gesellschaft sehr verankert. Es fällt schwer, darüber zu diskutieren, weil das alles sehr verletzend ist. Was glauben manche Leute, was nach Beschluss des Selbstbestimmungsgesetzes passieren wird? Das frage ich mich schon.

Inwiefern?
Schauen Sie in die Schweiz, wo es ein ähnliches Gesetz gibt. Da ist die Welt auch keine andere geworden, die Schweizer Uhren gehen so pünktlich wie zuvor. Ohne Diskriminierungserfahrungen klein zu reden, muss man auch sagen: Es läuft im Großen und Ganzen gut. Wir sind ja schon da und im Alltag funktioniert es, da erfahren wir viel Respekt. Die meisten transgeschlechtlichen Menschen wollen das gleiche wie alle anderen: in Frieden leben.                                           

AfD-Chefin Alice Weidel hat kürzlich gesagt, sie sei zwar eine lesbische verheiratete Frau, wolle sich aber keinesfalls als queer begreifen.
Ich möchte mich ungern mit der Gedankenwelt dieser Frau aufhalten. Aber vielleicht ist es ganz gut, dass sie so etwas sagt, weil den Menschen klar werden sollte, dass die pluralistische, offene und freie Gesellschaft, in der wir leben, ernsthaft in Gefahr ist. Ich hoffe, es wird endlich erkannt, dass dieses hohe Gut nicht selbstverständlich ist.