Gespräch aus dem Jahr 1997 "Ein Krüppel als Kanzler? Diese Frage muss man stellen": So sprach Schäuble einst über die K-Frage

Wolfgang Schäuble Paid Klassiker
Schäuble in seinem Arbeitszimmer im badischen Gengenbach
© Konrad Rufus Müller
Traut sich der Mann im Rollstuhl das Amt des Bundeskanzlers zu? Eigentlich ist die Antwort: ja. Nur die Loyalität zu Helmut Kohl zwingt ihn in den Konjunktiv. Ein stern-Klassiker aus dem Jahr 1997.

Am 12. Oktober 1990 wurde Wolfgang Schäuble während einer Wahlkampfveranstaltung von einem psychisch kranken Mann niedergeschossen. Seit dem Attentat war Schäuble vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Ungeachtet seiner Behinderung kämpfte sich Schäuble zurück in das fordernde Leben eines Berufspolitikers und galt als Kandidat für die Nachfolge des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. In einem stern-Porträt aus dem Jahr 1997 thematisierte Schäuble selbst, ob er als Behinderter für das Amt geeignet ist: "Ein Krüppel als Kanzler? Diese Frage muss man stellen", sagte Schäuble damals zum stern-Reporter Hans-Peter Schütz. Das Porträt des langjährigen Polit-Korrespondenten ist inzwischen ein stern-Klassiker, den Sie hier aus Anlass von Schäubles Tod noch einmal lesen können.

2018, im Rahmen eines großen Interviews zu sieben Jahrzehnten Bundesrepublik sprach der stern Schäubles offensiven Umgang mit seiner Behinderung erneut an, fragte ihn insbesondere nach seiner damaligen Wortwahl, die in Zeiten von political correctness heute sicherlich auf Widerspruch stoßen würde. Schäubles Antwort: "Behinderte sind da viel unbefangener. Eigentlich sind ja alle Menschen behindert, unser Vorteil ist: Wir wissen es."

"Ein Krüppel!" Kieselglatt kommen die zwei Worte und das Ausrufezeichen über die Lippen. Nichts zittert da nach, nichts klirrt, als der Mann im Rollstuhl seinen Zustand beschreibt. So einer soll Kanzler werden können? Ja, antwortet er sich selbst, "die Frage muß man stellen, es ist richtig, es zu tun". Wer US-Präsident werden wolle, dessen Gesundheitszustand werde bis in peinliche Details durchgehechelt, da dürfe man hierzulande nicht zimperlich sein. Nein, das ist keine weiche Stelle des Wolfgang Schäuble. "Es verletzt mich nicht, wenn mir die Frage nach dem Kanzler im Rollstuhl gestellt wird."

Erschienen in stern 3/1997