Rentnerin Annelie erinnert sich "In einer Silvesternacht verliebten wir uns"

  • von Nora Gantenbrink
Ein liebevoller Blick zurück: In der Generation von Annelie (hier eine Altersgenossin) hat man sich verliebt und geheiratet. Und wenn man Glück hatte, blieb man ein Leben lang zusammen.
Ein liebevoller Blick zurück: In der Generation von Annelie (hier eine Altersgenossin) hat man sich verliebt und geheiratet. Und wenn man Glück hatte, blieb man ein Leben lang zusammen.
© Colourbox.de
Annelie ist 86 Jahre alt und erinnert sich an ihre große Liebe - Fritz, den sie heiratete und mit dem sie zwei Töchter bekam. Annelie weiß, dass sie großes Glück hatte: Die Zeiten waren unaufgeklärt.

Mein Geburtsjahr ist 1928, und das muss man erst mal erklären, denn sonst wird vieles seltsam erscheinen, was ich Ihnen hier erzähle. Als ich meine Regel bekam, an einem Wandertag mit der Schule, dachte ich zuerst, ich hätte mich verletzt. Zu Hause fragte ich meine Mutter. Die sagte nur: "Das ist das schlechte Blut, das muss jetzt einmal im Monat aus dir raus!"

Wir waren damals, was die sexuelle Reifwerdung und das ganze Drumherum betraf, wirklich sehr dösig. Keiner wusste so richtig gut Bescheid. Ein bisschen was lernte man im Biologieunterricht, aber so wirklich klärte einen keiner auf. Meine Mutter hielt es sogar für möglich, dass man vom Küssen Kinder bekommt. Nach dem Ende des Krieges lernte ich meinen Mann Fritz kennen. Wir arbeiteten beide beim Engländer. Er als Übersetzer, ich als Sekretärin. In einer Silvesternacht verliebten wir uns. Er setzte sich ans Klavier und fing für mich an zu spielen. Seine langen, schlanken Finger flogen nur so über die Tasten. Es war wunderschön. Fritz und ich trafen uns seitdem oft, später hielt er bei meinen Vater um meine Hand an. Mein Vater sagte nur: "Wenn Ihnen die Hand ausreicht, bitte sehr!"

Eine Braut musste Jungfrau sein

Geschlechtsverkehr vor der Ehe war damals nicht denkbar, denn eine unverheiratete Frau in Umständen glich einem Schwerverbrecher. Auf dem Dorf hängte man nach der Hochzeitsnacht sogar die blutbefleckten Laken aus dem Fenster, nur um zu zeigen, dass die Braut wirklich eine Jungfrau war. Schrecklich! Zudem gab es in den Fünfzigern den sogenannten Kuppelparagrafen. Das war ein Gesetz, wonach sich jeder der Kuppelei strafbar machte, der unverheiratete Paare in einer Wohnung schlafen ließ.

Fritz und ich haben dann nach unserer Hochzeit mit der Knaus- Ogino-Methode verhütet. Fritz zählte immer meine fruchtbaren Tage aus und errechnete so, wann wir miteinander sein durften und wann nicht. Ich habe trotzdem zwei Töchter bekommen. Beide sind im November geboren. Fritz wunderte sich, warum, aber ich fand es heraus: Er hatte sich im Februar verzählt, weil der Monat ja nur 28 Tage hat. Andere Verhütungsmethoden waren damals noch nicht besonders gut. Die Antibabypille gab es noch nicht, und Kondome waren auch nicht das Wahre.

Ich hatte großes Glück

Ich hatte nie einen anderen Mann als meinen Fritz, und das habe ich bis heute nicht bereut. Ich hatte keine Erfahrungen vor ihm, er schon: Als Soldat im Zweiten Weltkrieg in Italien hatten die Männer ganz gut gelebt. Sicherlich gibt es Frauen in meinem Alter, die Pech hatten und einen brutalen oder verantwortungslosen Mann geheiratet haben. Aber ich hatte großes Glück: Fritz war immer sanft und liebevoll zu mir. Und er war mir das ganze Leben treu. Er ist nie aus der Haustür gegangen, ohne mich vorher zu küssen. Und jeden Abend hat er mit seinen langen, schlanken Fingern ganz zart meine Hand gestreichelt, bis ich eingeschlafen bin.

Fritz ist vor sieben Jahren verstorben, ich weine jeden Tag um ihn. Er war die Liebe meines Lebens. Manchmal, da setze ich mich vor sein Foto und höre die Lieder, die wir damals zusammen hörten. Am liebsten Verdi, italienische Arien. Und dann sehe ich uns hier durchs Wohnzimmer tanzen und lachen. Ich sehe ihn mit unseren Töchtern an der Hand auf mich zukommen. Ich sehe ihn am Klavier oder in unserem alten Fiat Topolino sitzen. Ich sehe unser Leben vor mir und spüre, wie warm und wertvoll es war. Und dann sage ich zu ihm: "Fritz, ich danke dir so sehr."

Unter dem Titel "Die Entdeckung meiner Leidenschaft" können Sie im neuen stern-Extra weitere Liebesgeschichten lesen

Aufgezeichnet von Nora Gantenbrink

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