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C. Tauzher: Mutter in Rage und ihre Kinder Der ewige Kampf um die Tischmanieren

Kind isst Spaghetti mit den Händen
Tischmanieren? "Sind doch unlogisch", sagt die Mücke
© Doug Berry / Getty Images
Die Tochter sieht beim Essen immer aus wie ein kleiner Schaufelbagger. Je älter sie wird, desto weniger hält sie sich an Tischmanieren. So kann das nicht weitergehen, findet Christiane Tauzher - und plant eine groß angelegte Gegenmaßnahme.

"Hast du Schmerzen im Arm?", fragte ich die Mücke, die breitarmig über dem Teller hing und den Löffel nur gerade so weit anhob, dass er auf dem kürzesten Weg den Mund erreichte. Sie erinnerte mich an eine Landstreicherin, die in einer Aufwärmstube endlich etwas zu essen bekam und die vor lauter Hunger nicht mehr die Kraft hatte, sich gerade zu halten und hinunterschlang, was ging, da sie nicht wusste, wann sie das nächste Mal etwas Warmes zwischen die Zähne bekommen würde.

Da hatte ich mich jahrelang bemüht, der Mücke Tischmanieren beizubringen, und wenn ich sie mir jetzt so anschaute, wie sie hineinschaufelte und mit vollem Mund redete, hatte ich das Gefühl, sie wäre nicht dabei gewesen.

Christiane Tauzher: Mutter in Rage und ihre Kinder

Meinen Lebenslauf hätte ich aufbauschen sollen. Die unaufgebauschte Wahrheit ist: Ich habe Wien seit meiner Geburt nur im Notfall verlassen. Für einen Job als Tratschkolumnistin ließ ich meinen Studienabschluss sausen. Damals, mit 21, fand ich das mutig. Heute, mit 41, finde ich das hirnverbrannt. Aus der Schublade "Society" bin ich mühsam wieder herausgeklettert.

Die Geschichten, die ich hier erzähle, handeln von meinen Kindern (der Mini, 3, und die Mücke, 13) und dem Olaf, 46. Es gibt keine weise Erkenntnis. Was es gibt, sind Storys aus einem fast perfekten Alltag.

"Mein Arm ist okay", sagte sie, zog augenrollend beide Arme an den Körper und richtete sich auf.

"Wer von uns isst so? Wo siehst du das?", fragte ich sie und war ein bisschen verzweifelt, weil alles "umsonst gewesen war".

Sie gab mir zur Antwort, dass der Mini oft mit den Händen essen würde und dass es unfair sei, immer nur sie zu kritisieren.

"Der Mini ist zwei Jahre alt", erinnerte ich sie, "und ich bin froh, wenn er überhaupt etwas isst. Aber mach dir keine Sorgen, er wird es auch lernen müssen."

Als ich begann, von den Erziehungsmethoden meiner Mutter zu erzählen, fiel sie mir ins Wort: "Bitte, ich kenne die Geschichte aus deiner Kindheit vom Essen mit Büchern unter dem Arm." Sie seufzte.

So oft hatte ich die Geschichte noch gar nicht erzählt.

Diese "Oberflächlichkeiten", die "nichts über den Charakter eines Menschen aussagen", fand sie überbewertet. Ich solle sie einfach in Ruhe lassen, schlug sie vor, und während des Essens am besten aus dem Zimmer gehen. Je älter die Mücke wurde, desto weniger hielt sie sich an Umgangsformen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie einfach vergessen hatte, was sich gehörte und was nicht. Ich wurde trotzdem nicht müde und wiederholte die Litanei bei jeder Mahlzeit: "Ellenbogen vom Tisch!", "Die Hand geht zum Mund und nicht umgekehrt!", "Die Serviette ist nicht nur zur Zierde da." "Vor dem Trinken Mund abwischen." "Sitz gerade!"

Vom Olaf konnte ich mir keine Hilfe erwarten. Wenn er sich einmal einmischte, sagte er höchstens, "Mücke, bitte!" und mehr nicht, und da musste es schon ganz arg sein.

"Das ist unlogisch!"

Sie sah die Sache so: "Wieso muss ich mich total verkrampfen und mit angelegten Armen essen, wenn sowieso niemand neben mir sitzt? Das ist unlogisch."

Gutes Benehmen, erklärte ich ihr zum hundertsten Mal, habe nichts mit Logik zu tun. Es gebe in der Gesellschaft Regeln, die Wertschätzung und Respekt ausdrücken. Außerdem blieben Menschen ohne Benehmen viele Türen verschlossen. Die Mücke sagte, dass sie an solche Türen gar nicht klopfen werde und dass es im Leben nicht darauf ankomme, wie sie ihre Suppe esse.

Entnommen aus ...

"Ich sage es jetzt zum allerallerletzten Mal! Storys aus dem fast perfekten Alltag einer Mutter", von Christiane Tauzher, Goldegg Verlag, 14,95 Euro

Um ihr das Thema zu veranschaulichen, lud ich ein paar unserer Freunde und die Familie in ein Lokal zum Mittagessen ein. Am Telefon hatte ich mit dem Kellner vereinbart, dass er die Gedecke besonders eng legen solle. Die Mücke wurde mittendrin platziert.

Als die Vorspeise kam, stellte sie verwundert fest, dass sie wie eine Sardine zwischen Onkel und Cousine eingeklemmt war. Alle begannen zu essen und niemanden schien es zu stören, dass der Nachbar fast auf seinem Schoß saß. Jeder aß mit angelegten Armen und keiner stieß an den anderen an. Leise fragte die Mücke ihren Onkel, ob es normal sei, dass man so nah beieinandersitze. Der Onkel, der in die praktische Übung eingeweiht war, erklärte ihr, dass das schon einmal vorkommen könne. Besonders bei geschäftlichen Essen oder großen Einladungen, wenn viele Menschen an einem Tisch zusammenkamen. Vorbildlich führte die Mücke den Löffel zum Mund, saß gerade, verwendete die Serviette und ich freute mich. Es ging ja doch.

"Wieso hast du dir das gefallen lassen?"

Als das Tischgespräch darauf kam, dass mein Bruder und ich in unserer Kindheit zu Trainingszwecken mit Büchern unter dem Arm essen mussten und ich bis zu meinem vierzehnten Geburtstag bei jeder Begrüßung knicksten musste, konnte es die Mücke nicht glauben. Die Geschichte von den Büchern kannte sie schon, aber der Knicks war ihr neu.

"Wieso hast du dir das gefallen lassen?", fragte sie mich.

Ich zuckte mit den Achseln. "Es war einfach so. Man hat nicht darüber nachgedacht." Dann wollte die Mücke noch wissen, was die Nonni gesagt habe, wenn wir uns danebenbenahmen. "Wir sind nicht bei den Wilden!", erinnerte ich mich. Das amüsierte alle, obwohl es eigentlich überhaupt nicht lustig und politisch nicht korrekt war.

Abends im Bett erklärte die Mücke, dass ich mich auf den Kopf stellen könnte, aber knicksen würde sie trotzdem nicht. Als hätte ich das je von ihr verlangt.

"Schau", sagte ich und seufzte, "mir geht es nicht darum, ein dressiertes Pferdchen aus dir zu machen. Menschen, die keine Manieren von zu Hause mitbekommen, haben es später viel schwerer. Nur darum geht es." Ich erzählte ihr die Geschichte, als sie drei Jahre alt war und sich weigerte zu grüßen und sich zu bedanken. "Damals war ich mit dir in einer Bäckerei, weil du gern einen Krapfen haben wolltest. Wir standen fünf Minuten vor der Vitrine, du hast dich geweigert, die Verkäuferin zu begrüßen. Also sind wir ohne Krapfen wieder gegangen." Ich sagte ihr, dass ich sehr gerne den Krapfen gekauft hätte, dass ich die Lektion damit aber kaputt gemacht hätte.

"Und", fragte die Mücke, "hat es etwas gebracht?"

"Seit dieser Situation in der Bäckerei hast du nicht mehr vergessen zu grüßen", sagte ich, "der Krapfen, der dir durch die Lappen gegangen ist, hat sich anscheinend bei dir eingeprägt." Erziehung, erklärte ich ihr, sei im besten Fall eine Fülle an Erfahrungen und Erlebnissen, die die Eltern schaffen müssten, damit das Kind daraus lernen könne. "Das heutige Essen im Restaurant hat dir hoffentlich auch gezeigt, dass ich dich nicht ärgern will, wenn ich dich beim Essen ermahne."

Die Mücke nickte und schien versöhnt zu sein. Und sie gab zu, dass sie sich nicht hatte vorstellen können, wie wenig Platz sie zum Essen brauche. "In Zukunft werde ich mich wieder bemühen", versprach sie. Einen klitzekleinen Kompromiss schlug sie trotzdem für sich heraus. Sie wolle sie sich wieder mehr an die Tisch-Regeln halten und nicht mehr wie ein Bagger hineinschaufeln. "Dafür", sagte sie, "drehst du mir nach dem Essen kurz den Rücken zu, damit ich den Teller abschlecken kann. Einverstanden?"

Wir besiegelten die Abmachung mit einer Umarmung. Der Olaf und der Mini wollten auch beim Tellerabschlecken mitmachen.

Seither habe ich keine Landstreicherin mehr am Tisch und stelle blankgeschleckte Teller in die Spülmaschine. Ich finde, das habe ich gut gemacht.

C. Tauzher: Mutter in Rage und ihre Kinder: Der ewige Kampf um die Tischmanieren

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