Die Ferien sind über der Halbzeit, die Hitze liegt wie eine schwere Decke über der Stadt. Für den Moment hat Kamala Harris das Corona-Virus aus den Schlagzeilen verdrängt. Während die Welt über die erste dunkelhäutige Frau debattiert, die Chancen hat amerikanische Vizepräsidentin zu werden, gilt das Interesse der Teenagerin einem Knutschfleck, der blaugrünrot wie ein bierdeckelgroßes Feuermal an der linken Seite ihres Halses leuchtet. Freundinnen gehen bei uns ein und aus, um das Prachtstück zu begutachten, zu fotografieren und die Geschichte seiner Entstehung bis ins Detail zu hören. Ein Knutschfleck dieser Größenordnung ist mindestens so einzigartig wie es eine amerikanische Vizepräsidentin wäre. Die Wombi trägt ihren mit Gelassenheit. Es sei normal für Menschen ihres Alters und kein Grund sich zu genieren oder gar ein Halstuch umzubinden.
Denn: "Knutschen ist besser als nicht knutschen." Damit war das Thema für sie in meine Richtung abgehakt. Der Olaf bekam noch weniger Information. Als er sie mit entsetztem Gesicht fragte, was passiert sei, nannte sie den Fleck beim Namen, zuckte die Achseln und ließ ihn staunend stehen. "Findest du das normal?", raunte er mir zu. Ich wusste auch nicht, wie ich zur einvernehmlichen Körperverletzung am Hals unserer Tochter stand.
"Solltest du nicht zumindest bei der Arbeit....", ich meinte es ja nur gut. "Weißt du, wie heiß es im Lokal wird. Einen Halswickel halte ich echt nicht aus. Außerdem arbeite ich nicht als Model, sondern als Kellnerin", schnaubte die Wombi. Dass ihr Gesicht täglich unter mehreren Schichten Make-Up und Puder begraben ist und dass die Haut unter dem ganzen Kleister sicher größere Atemnot hat als der Knutschfleck unter einer dünnen Lage Stoff, ließ ich ungesagt.
Mit der Geschichte meines ersten (sehr kleinen und sehr blassen) Knutschflecks, den ich mir mit 16 (zum Glück im Winter) einfing und den ich mittels Rollkragenpullover unter der Decke hielt, fand die Wombi so unspannend, dass sie keine Veranlassung sah, auch nur eine einzige Frage dazu zu stellen. "Der Knutschfleck war dir also peinlich", bemerkte sie nur und es schwang Mitleid in ihrer Stimme. "Naja", antwortete ich, "also ja, doch, schon."
Die Wombi bedauerte mich, dass ich in so einer "spießigen und verklemmten Zeit" aufwachsen musste. "Äh", verteidigte ich die Zeit, "ich glaube, das lag an mir und nicht an der Jahreszahl." Diese Offenbarung rang der Wombi einen tiefen Seufzer ab. Von einer Mutter in die Welt gesetzt worden zu sein, die sich mit 16 für einen Knutschfleck schämte, der nicht größer als ein Centstück war. "Pfffffffffffffffffff", machte sie.
Später ...
"Heute hat mich ein Gast gefragt, was ich da am Hals habe", erzählte sie.
Ich wusste, dass so etwas passieren würde. "Und was hast du geantwortet?"
Wir saßen in der Küche. Die Wombi nahm einen Schluck Kaffee und warf die Haare zurück. Der Knutschfleck starrte mich wie ein riesiges drittes Auge an.
"Ich hab dem Typen gesagt, dass ich eine vorbeugende Blutegeltherapie gegen Corona mache."
"Ach", sagte ich und war ehrlich beeindruckt, wie schlagfertig die Wombi war, "und hat er die Geschichte geglaubt?"
Die Wombi gähnte. "Natürlich nicht. Er meinte, dass das aber ein großer Blutegel gewesen sein müsse. Hahaha...der hielt sich für besonders witzig. Ich habe trotzdem gelacht, und er ist drauf reingefallen und hat mir ordentlich Trinkgeld gegeben."
Wir lachten auch. Die Wombi wird einmal die Welt erobern. Soviel steht fest.