Viele alleinerziehende Elternteile haben zwei große Sorgen: Geld und Zeit. In der Regel mangelt es an beidem, und das überschattet auch das Leben der Kinder. Wenn kein Unterhalt gezahlt wird, nur Teilzeitarbeit möglich ist und der Alltag aus Improvisation besteht, verursacht das Stress. Und gestressten Eltern fällt es schwer, ausgeglichen und entspannt für ein harmonisches Miteinander zu sorgen. Da wird man schon mal laut. Oder ungerecht. Gelegentlich verzweifelt, etwa wenn das Geld aus ist, der Monat aber noch andauert.
Solche existenziellen Sorgen haben Jonas Kaurek und seine Mutter Susanne nicht. Sie leben auf dem Land in einem schönen Haus in Österreich, der nächste Nachbar ist rund einen Kilometer entfernt. Fünf Hunde und zwei Katzen gehören ebenso zur Familie wie Susannes Freund Michi. Patchwork at its best. Jonas ist ein sehr guter Schüler, Mathe und Englisch sind seine Lieblingsfächer. Er gilt als besonders begabt. Mit vier Jahren hat er sich das Lesen beigebracht, weil ihm die Bilder in den Comics seiner Mutter nicht mehr ausreichten. Am liebsten spielt er Lego, noch, denn zu Weihnachten wünscht er sich eine Wii U. Sollte sein Wunsch in Erfüllung gehen, werden die bunten Steine womöglich durch die Konsole abgelöst.
Die Abwesenheit des Vaters
"Ich bin jetzt zehn. Ein Junge schreibt seinem Vater", Verlag edition a, 112 Seiten, 16,90 Euro, erscheint am 22. November 2015.
Doch so schön das alles klingt, in einer heilen Welt lebt auch Jonas nicht. Dazu fehlt ihm etwas Wichtiges: sein Vater. Er sieht ihn so gut wie nie, denn sein Vater hat kein Interesse daran, Zeit mit seinem Kind zu verbringen. Das schmerzt Jonas. Er wird sogar in der Schule dafür gehänselt. Aber darüber redet er nicht. Hat er jedenfalls bis Ende letzten Jahres nicht, bis ihm der Zufall Bernhard Salomon ins Haus spülte. Salomon ist Verleger, Autor und Ghostwriter und wollte einem begabten Kind eine Stimme verleihen, aus seiner Sicht zu erzählen, wie es ist, begabt zu sein. Durch Zufall erwähnte jemand Jonas. Und so trafen sich die beiden am 23. Dezember 2014 zum ersten Mal, mochten sich sofort und obwohl Salomon spürte, dass sein Projekt mit Jonas eventuell nicht umzusetzen war, beschloss er, sich fortan einmal pro Woche mit dem Jungen zu treffen. Weil die Chemie stimmte, Salomon keine eigenen Kinder hat und neugierig war, was daraus entstehen würde. "Man kann einem Kind ja auch nicht sagen, dass es beim Casting durchgefallen ist", erzählt Salomon von der ersten Begegnung mit Jonas, der damals neun war.
Ein knappes Jahr später erscheint im Buchhandel, was aus dieser Begegnung entstanden ist: ein Buch mit dem Titel "Ich bin jetzt zehn. Ein Junge schreibt seinem Vater". Etwas komplett anderes als ursprünglich gedacht. Salomon berichtet, wie es dazu kam: "Irgendwann hat Jonas gesagt, das Buch, das wir da machen wollen, findet er ja eigentlich ganz witzig, aber es gebe da eine Sache, die er wirklich gerne schreiben würde, nämlich einen Brief an seinen Vater. Zu dem Zeitpunkt hatten sich viele unserer Gespräche bereits um seinen Vater gedreht, weil das für ihn ein großes Problem ist, über das er innerhalb der Familie nie wirklich gesprochen hat."
Nun hatte er einen väterlichen Freund und dazu noch einen, dessen Beruf es ist, zuzuhören. Und nachzufragen. Der letztendlich das Buch geschrieben hat, aber versichert, dass "es nicht einen Satz enthält, den Jonas nicht gesagt hat". Und exakt so liest es sich auch. Mit Witz und Charme, gelegentlich auch Sorge und Wut berichtet Jonas seinem Vater aus seinem Leben, damit dieser weiß, was Jonas denkt und macht. Durch die Momentaufnahmen aus dem Alltag und Jonas' Überlegungen dazu, soll er die möglicherweise vorhandene "Angst" vor ihm verlieren. Auch anstrengend sei er nicht, versichert er an einer Stelle, das sage jedenfalls der Verleger.
Jonas' Leben spielt sich, logisch, zum großen Teil in der Schule ab. Und da geht es bisweilen ganz schön rau zu. Da wird gekämpft, getobt, gerannt und es wird sich gekloppt. Manche Jungs haben Jonas auf dem Kieker, aber er hat Ausweichstrategien entwickelt. Die Themen Stärke und Tempo beschäftigen ihn: "Ein bissl schneller wäre ich gern", erzählt er dem stern, also trainiert er manchmal. Eigentlich sind seine Lieblingssportarten Jiu Jitsu, Golfen, Bogenschießen und Meditieren.
Regelmäßiger Kontakt erwünscht
Jonas' Ziel ist klar: Er will, dass sein Vater ihn kennenlernt und er will seinen Vater kennenlernen. Denn: "Es fühlt sich beschissen an, dass du nicht die ganze Zeit da bist [...] Wenn wir in der Schule über Väter reden, fühle ich mich ausgeschlossen, als würde ich gar keinen Vater haben", wirft er ihm gegen Ende des Buches vor. Deshalb soll sein Vater dieses Buch als Einladung verstehen, mit Jonas Weihnachten zu feiern. Das wäre sein größter Wunsch, soll aber eigentlich auch nur ein Anfang sein, denn am liebsten würde er ihn regelmäßig sehen, alle ein oder zwei Wochen.
"Meine erste Reaktion, nachdem ich das Buch gelesen hatte, war, dass ich mich bei ihm bedankt habe, tränenüberströmt, dass er sich mich als Mutter ausgesucht hat. Es ist einfach unglaublich, was ich an ihm als Mensch lerne", sagt Jonas' Mama dem stern. "Ich wusste bis zum Schluss nicht, um was es geht. Ich durfte es erst lesen, das war der Wunsch von Jonas, als es fertig war." Susanne Kaurek betont, dass Jonas' Vater kein schlechter Mensch sei. Dass sich es ihm aber nicht gelänge, in puncto regelmäßigem Kontakt seiner Verantwortung nachzukommen. "Ich habe ihm immer gesagt: 'Alles, was du tust, ist gut.'" Sie macht ihm keine Vorwürfe, hofft aber natürlich für ihren Sohn, dass sich etwas ändert: "Sein Vater hatte jetzt zehn Jahre lang Zeit, seinen Weg zu gehen, es ist auch in Ordnung für meinen Sohn, dass er seinen Weg geht."
Ein mutiger Schritt
Das Jonas ein kluger Kopf ist, ist ihm auch bewusst, dass er mit dem Buch alles auf eine Karte setzt. Dass er eventuell provoziert, dass sein Vater sich komplett zurückzieht. Aber das Risiko geht er ein, denn der jetzige Zustand fühlt sich auch nicht besser an. "Ich bin manchmal wütend auf dich, weil du dich nie blicken lässt. Wenn du dich zum Beispiel fünf Monate lang gar nicht blicken lässt. Kein Kontakt. Ich weiß gar nicht, ob du noch lebst", drückt er es in dem Buch aus. Die beiden Zitate sind so ziemlich die dicksten Kröten, die der Vater schlucken muss, denn es handelt sich um keine Litanei aus Vorwürfen. Ganz im Gegenteil: Wie durch ein vergnügliches Tagebuch blättert sich der Leser durch die Gedankenwelt eines Zehnjährigen, der manche Dinge erstaunlich klar und analytisch betrachtet. Der zu Gott und der Welt eine Meinung hat und die auch gut begründen kann. Wie ein Mitschüler steht der Leser neben ihm in seinem Zimmer und drückt die sechs Tasten seines Furzkissens, die sechs unterschiedliche Töne furzen. "Das hat ungefähr unendlich Akku", sagt Jonas. Zum Glück.