Die Beschwerde der 17-jährigen Naina, die twitterte, in der Schule würde sie nicht lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und nichts erfahren, was sie im Leben wirklich bräuchte, sorgte für großen Wirbel. Sie wünschte sich, sie hätte etwas über Mieten, Versicherungen und Steuern gelernt, denn das sei ja für einen Auszug aus dem Elternhaus nach dem Abitur wirklich wichtig. Aus dem Tweet der Kölnerin lässt sich einiges herauslesen: Neben der Kritik am gymnasialen Curriculum vor allem eins - der Wunsch, gesagt zu kriegen, was sie tun soll. Das wirkt auf den ersten Blick geradezu paradox: Während man vermutet, dass die Vorfreude auf die eigene Selbstständigkeit, das Leben ohne elterliche Kontrolle, die Lust auf Freiheit und Abenteuer überwiegen müsste, beherrscht stattdessen Frust und Unmut den Kopf des Teenagers. Aber warum?
"Eltern machen ihre Kinder unselbstständig", sagt die Schweizer Pädagogin Susanne Stöcklin-Meier, und spricht dabei vom Kindergartenalter und von Eltern, die den Kleinen alles abnehmen. Denn grundsätzlich machen Kinder gerne etwas selber. Das ist nicht nur bei Dreijährigen ein großer Drang, auch später entdecken sie begeistert neue Fähigkeiten an sich - wenn man sie denn lässt. Nimmt man dem hungrigen Kind Apfel und Messer aus der Hand und sagt "Ich mach das schon", wird das irgendwann zu "Mama kann das eh besser" - und damit die perfekte Ausrede, die eigene Faulheit zu pflegen.
Was sollen Eltern tun?
Der Arzt und Psychotherapeut Samuel Widmer Nicolet nennt es das "Syndrom des zu wenig vernachlässigten Kindes": "Kinder, die aufgrund erdrückender Zuneigung und übermäßiger Kontrolle der Eltern völlig unselbständig sind und andererseits ein unglaubliches Anspruchsdenken entwickelt haben." Er sieht die Ursache dafür im Leben in kleinen Gemeinschaften: Eltern mit nur einem oder zwei Kindern neigten zu übermäßiger Bemutterung und Fürsorge, für die in Großfamilien gar keine Zeit sei. Dort würde stattdessen die Eigenverantwortung des Einzelnen gefordert.
Nicht jeder hat den Wunsch oder die Möglichkeit, wie Nicolet, neun eigene Kinder großzuziehen. Eltern schmieren nicht Schulbrote bis zum Abitur, weil ihre Kinder dafür zu klein sind, sondern weil es morgens das Einzige ist, was sie ihnen für einen langen Schultag mit auf den Weg geben können. Weil sie selbst vielleicht den ganzen Tag arbeiten und es ihnen das Gefühl gibt, für das Kind dagewesen zu sein. Aus dem gleichen Grund erwarten sie beim Abendbrot auch nicht, dass das Kind mal das Kochen übernimmt. Eine emotionale Falle mit Folgen, die sich später in Unselbstständigkeit ausdrückt, etwa wenn es 16-Jährigen schwerfällt, sich ein Spiegelei zu braten oder einen Topf Spaghetti zu kochen.
Mithilfe als Beitrag zur Gemeinschaft
Für das ewige schlechte Gewissen, insbesondere der Mütter, gibt es aber eigentlich keinen Grund, wie eine Studie der Zeitschrift "Eltern" kürzlich ergab. Während sich Eltern mit den Ansprüchen an sich selbst stressen, können sich die meisten Kinder keine besseren als ihre eigenen Eltern vorstellen. Das heißt doch auch: Man muss sein Kind nicht in allem so umsorgen! Einem Teenager ginge es kein Deut schlechter, wenn er sich morgens selbst ein Brot schmiert. Das Einbinden in Haushaltspflichten ist zum Beispiel ein erster Schritt, um Jugendlichen zu zeigen, dass sie Verantwortung für bestimmte Bereiche übernehmen müssen. Dass sie selbstständig werden müssen. In seinem Buch "Pubertät" schreibt der dänische Familientherapeut Jesper Juul in dem Kapitel "Gemeinsames Heim oder Hotel": "Das Problem besteht jedoch darin, dass die Liebe der Eltern stets in einer Form zum Ausdruck kommt, an die sich Kinder gewöhnen. In dieser Familie haben sich die Eltern dafür entschieden, ihre Liebe als 'Serviceleistung' zum Ausdruck zu bringen, doch Service ist etwas anderes als Liebe."
Eltern müssen also lernen, ihre Liebe anders auszudrücken als darin, das Kind zu verwöhnen. Einerseits spürt das Kind, dass es einen wertvollen Beitrag leistet, wenn es etwas zum gemeinsamen Leben beiträgt, andererseits entwickelt es eine gewisse Routine in den zu erledigenden Aufgaben. Und wenn Kindern nicht alles abgenommen wird, entsteht vielleicht das, was ohnehin das Wertvollste für Eltern und Kinder ist: Zeit, die man miteinander verbringt.