Zukunftspanik rund ums Abi "Wer jetzt was falsch macht, bleibt auf der Strecke"

Schüler wünschen sich mehr praktische Lebenskunde in der Schule, insbesondere am Gymnasium. Sie fühlen sich unzureichend vorbereitet für die Zeit nach dem Abi.
Schüler wünschen sich mehr praktische Lebenskunde in der Schule, insbesondere am Gymnasium. Sie fühlen sich unzureichend vorbereitet für die Zeit nach dem Abi.
© Colourbox.de
Die Abiturienten dieses Jahres sind eigen: Sie wissen, was sie wollen, aber vertrauen nicht darauf, dass sie ihr Leben schon meistern werden. Woher kommt die Panik? Ein Gespräch mit einer 18-Jährigen.

Bevor sie das Abi in der Tasche haben, wollen viele Abiturienten wissen, wie es danach weitergeht. Wie sie Mietverträge abschließen, welche Versicherungen sie brauchen, wie man eine Steuererklärung ausfüllt. Sorgen, die sich ältere Generationen nicht vor, manche sogar Jahrzehnte nach dem Abitur nicht gemacht haben. Warum stehen die Absolventen heute so unter Strom?

"Wir kriegen von allen Seiten Druck", sagt Alexandra Popilar, die in ihrem Gast-Kommentar beim stern ähnliche Forderungen an die Schulbildung gestellt hat wie die 17-jährige Kölnerin Naina. "Meine Eltern sagen mir 'Mach dich bloß schlau, wie es nach dem Abi weitergeht', denn sie können mir nicht dabei helfen. Woher soll ich wissen, wo ich zum Beispiel Wohngeld beantragen muss?", fragt sie. Popilars Eltern sind in den 1990er Jahren aus Rumänien nach Deutschland gekommen und kennen sich damit nicht aus. "Zum Glück habe ich in meinem Bekanntenkreis einen Beamten, den ich fragen kann. Dafür bin ich wirklich sehr dankbar", so Popilar.

Einfach mal rumtelefonieren?

Und wenn sie einfach mal beim Sozialamt angerufen hätte? "Das muss ich ja auch erstmal wissen, dass die zuständig sind", so Popilar. "Auf dem Gymnasium ist bis zum Schluss alles reine Theorie und plötzlich sollen wir so praktische Dinge wissen, ohne dass uns jemand darauf vorbereitet hat. Wie soll das denn gehen?" Wenn das Sozialamt nicht zuständig ist, würden die Beamten einem das doch sagen - und wohl auch den richtigen Ansprechpartner nennen.

Ist bei dieser Konsumentenhaltung vielleicht auch ein bisschen Faulheit im Spiel? "Nein, man hat nur einfach keine Zeit, das muss alles beim ersten Mal klappen", erklärt die 18-Jährige im Gespräch mit dem stern. "Wir wollen doch nur ein paar Ratschläge mit auf den Weg kriegen, du kannst es so oder aber auch so machen. Weil es ja, was wichtige Entscheidungen angeht, verschiedene Möglichkeiten gibt, damit zu verfahren. Man hat total die Angst, was falsch zu machen. Wer jetzt irgendwas falsch macht, der wird auf der Strecke bleiben." Wer mit 18 was falsch macht, bleibt auf der Strecke, das denken Sie? "Ja. Und das geht leider sehr, sehr vielen so." Sie glauben also nicht, dass man durchaus mal Fehler machen kann? Und die auch wieder ausbügeln kann? "Da würde ich mich zumindest nicht drauf verlassen." Aber das kann man doch gar nicht vermeiden, das ist doch Leben. "Ja, aber uns wird von überall eingetrichtert, dass wir keine Fehler mach dürfen. Gerade in der Schule."

Einige Defizite

G8, Bachelor, Master, ab auf den Arbeitsmarkt, so will es die Wirtschaft. Auch wenn sich der industrielle Mittelstand zunehmend über die geistige Unreife und Defizite im Sozialverhalten beim Nachwuchs beschwert. "Sowohl bei den Bewerbern für eine Ausbildung als auch bei denen für ein duales Studium stellen wir fest, dass die Abiturienten nicht mehr dieselbe Reife mitbringen, wie es vor der Einführung von G8 der Fall war", sagte Torsten Muscharski, Personalleiter des Baumaschinenherstellers Volvo-ABG in Hameln der "FAZ" vor einem knappen Jahr. Die jungen Abiturienten stoßen nach dem Abschluss auf Schwierigkeiten in der "echten Welt".

Haben Popilars Klassenkameraden auch das Problem, sich zurechtzufinden? "Ja, keiner von uns hat Ahnung von diesen praktischen Dingen. Deswegen wäre ein Rechtskurs mit den wichtigsten Basisinformationen total sinnvoll." Mit einer Mischung aus Elternwissen und Internettipps einfach mal anzufangen, eigene Erfahrungen zu machen, wäre das keine Option? "In der Schule sagt man uns: Vertraut dem Internet nicht. Wenn ich als Beleg für meine Argumente eine Online-Quelle angebe, sehen meine Lehrer das nicht gern. Und woher soll ich bei 100.000 Treffern wissen, welchem Link ich vertrauen kann?", fragt sich die Schülerin.

Medienkunde und Informationskompetenz stand also nicht auf dem Lehrplan? "Nein. Ich glaube, dass ist das Problem bei meinem Jahrgang, wir sind so dazwischen. Vorher, vor fünf bis zehn Jahren, war noch nicht so viel mit Informationstechniken und so weiter. Das hat sich aber geändert, in den Unterstufen ist das jetzt ganz präsent, die haben Computerkurse und lernen das. Wir haben noch den Gebrauch von Lexika gelernt und Bibliotheksführungen gemacht. Manche Lehrer bestehen auf Bücher und andere sagen 'Macht das mit Internetquellen' und denken, dass wir das können. Einfach so. "

Sind die Eltern schuld?

Der Zeitdruck, dem die Schüler unterliegen, führt bei Eltern häufig zu einer gut gemeinten "Verschonung" der Teenager von anderen Pflichten. Die Kinder müssen oft noch vor ihnen aus dem Haus, da macht Mama schon aus Mitgefühl das Schulbrot. Bis zum Abi. Der Unterricht endet oft erst um vier, dann müssen Hausaufgaben gemacht und Klausuren vorbereitet werden, wann soll das Kind da einkaufen gehen oder die Spülmaschine ausräumen? Oder beim Kochen helfen? Die Konsequenz des liebevollen "Ich unterstütze mein Kind, wo ich kann" führt dazu, dass bei den Kindern die Erwartungshaltung entsteht, dass ihnen lästige Dinge abgenommen werden. Das, was nichts mit Schule zu tun hat jedenfalls. Sondern mit dem Leben. Ein Teufelskreis.

Ist das so auch bei Alexandra Popilar? "Überhaupt nicht, das genaue Gegenteil. Ich koche gerade, einmal in der Woche bin ich dran. Ich gehe einkaufen, nicht nur für meine Familie, sondern auch für die meines Freundes, wenn die mal nicht können. Meine Mutter hat mich da sehr zur Selbstständigkeit erzogen, gerade was Haushalt angeht, da werde ich eindeutig nicht verschont." Ist Sie da eine Ausnahme? "Die meisten Eltern meiner Freunde sind nachgiebiger. Und ich habe auch Freunde, von denen ich nicht weiß, wie die auf eigenen Beinen stehen wollen, wenn die mal ausziehen. Die kriegen es nicht mal auf die Reihe, einen Pudding aus der Tüte zu machen."

"Ich weiß schon genau, wie meine kommenden zehn Jahre aussehen", erzählt Alexandra Popilar. "Erstmal ziehe ich aus, dann mache ich ein Freiwilliges Soziales Jahr und dann studiere ich. Deutsch und Biologie, ich will Lehrerin werden." Und wenn es in einem Jahr wieder heißt, wir kriegen eine Lehrerschwemme, würde das die Entscheidung beeinflussen? "Ja, dann würde ich mir das noch einmal überlegen. Ich muss ja Geld verdienen."

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