Kinder rennen an der Straße entlang oder klettern auf Simse, die so hoch sind, dass ein Sturz vermutlich tödlich wäre. Frauen in eleganter Kleidung blicken verführerisch in die Kamera und ältere Menschen posieren so, dass ihnen anzusehen ist, wie viel Spaß sie daran haben, fotografiert zu werden. Doch all das findet nicht lange geplant und großartig geprobt in einem Studio statt, sondern mitten in den Straßen von New York City. Zu einer Zeit, in der Kameras noch deutlich seltener waren als in unserer Selfie-überfluteten heutigen Ära. Helen Levitt war eine besondere Dokumentarin – vor allem ihrer Stadt und der Menschen, die normalerweise nicht das Licht der Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie hatte ein Auge für den richtigen Moment. Am 31. August 1913 kam Levitt in Bensonhurst, Brooklyn, zur Welt, am 29. März 2009 verstarb sie in Manhattan, in Greenwich Village.
Die Wiener Albertina hat der Fotografin von Oktober 2018 bis Januar 2019 eine große Retrospektive gewidmet. In Zusammenarbeit mit dem Museum brachte der Kehrer Verlag ein Buch heraus, das ein Zitat des Kunst- und Kulturkritikers David Levi Strauss auf der Banderole der deutschen Ausgabe trägt: "Die berühmteste und zugleich unbekannteste Fotografin ihrer Zeit", hat er Levitt genannt.
Erste Veröffentlichung 1939
In ihrer rund 60 Jahre umfassenden Karriere begann Levitt mit Schwarzweiß-Fotografie, war dann eine der Ersten, die auf Farbfilm setzte und filmte ebenfalls. Nach Abbruch der Highschool fand Levitt ein Studio für Fotoportraits in der Bronx, in dem sie die technischen Voraussetzungen fürs Fotografieren erlernte. Helen Levitt kaufte sich 1936 eine gebrauchte Leica und stattete sie mit einem Winkelsucher aus. Das erlaubte ihr, relativ unbemerkt auf der Straße zu fotografieren. Ihre erste Veröffentlichung hatte sie im Juli 1939, als das Magazin "Fortune" ein Sonderheft über New York herausbrachte. Im Jahr darauf hing eins ihrer Fotos im Museum of Modern Art (MoMA). Abgelichtet waren drei maskierte Kinder, die sich auf ihren Halloween-Umzug vorbereiten.
Von Henri Cartier-Bresson lernte Levitt, Fotografie als Kunst zu betrachten und nicht nur als Mittel, soziale Ungerechtigkeit festzuhalten. Ihre erste Solo-Austellung im MoMA hatte sie 1943 mit "Photographs Of Children", in der auf der Straße spielende Kinder zu sehen waren. Damals fand das gesamte Leben auf dem Bürgersteig statt, es gab weder Fernseher noch Klimaanlagen.
Trotz all ihrer Veröffentlichungen hat Levitt ihre eigenen Arbeiten selten selbst kommentiert. "Wenn es einfach wäre, darüber zu reden, wäre ich ein Autor", erklärte sie ihre Abneigung über ihre Bilder zu sprechen. "Da ich sprachlos bin, drücke ich mich mit Bildern aus."