stern FOTOGRAFIE Elliott Erwitt

Alle Fotografen sind Jäger des Sekundenbruchteils, aber was Elliott Erwitt auszeichnet, ist die Fähigkeit zu erahnen, was das Objekt seines fotografischen Interesses wohl als Nächstes tun wird.

Es ist sehr lange her, irgendwann Anfang der 70er Jahre, da trafen sich in New York ein Journalist und ein Fotograf, und der Journalist sagte, er schreibe vielleicht ein Buch über Elliott Erwitt, "12 000 Wörter", so die damaligen Längenangaben für Texte. Der Fotograf stöhnte leise, "in all den Jahren, die ich ihn kenne, hat Elliott nicht einmal 12 000 Wörter gesprochen".

Elliott Erwitt ist heute 76 Jahre alt, und wenn man ihn nach dieser Geschichte fragt, lächelt er kurz, sagt "hmm" und "tja" und dann - nichts. Nun ist es nicht so, dass der Mann ein misanthropischer Einsiedler ist, der nicht mit Menschen reden will, im Gegenteil, wenn er spricht, dann immer mit einem Lächeln um den Mund. Aber warum soll er mehr sagen als nötig? Es gibt viel zu viele Menschen, die viel zu viel reden. Erwitt schaut ihnen zu, vertraut seinen Augen mehr als seinen Ohren und macht im Übrigen wenig Aufhebens um sich. So hat er seinen Beruf Fotograf schließlich mal gelernt. "Es war ja immer wichtig, dass die Menschen vergessen, dass ich sie fotografiere. Wenn ich immer geredet hätte, wäre ich der Mittelpunkt gewesen, und dann bekommen Sie kein gutes Foto. Als Fotograf muss man unsichtbar und lautlos sein", sagt er.

Elliott Erwitt lebt heute mit seiner vierten Frau Pia Frankenberg in einer großen Wohnung am New Yorker Central Park, aus seinem Fenster kann er fast den ganzen Park sehen, und wenn er sich umdreht, kann er einen großen Teil seines Lebens überblicken, denn die Wohnung ist bis unter die Decke voll mit seinen Bildern. Fragt man ihn, ob er irgendeine Ahnung hat, wie viele Aufnahmen er gemacht hat, überlegt er lange, "meinen Sie in der Werbung, als Reporter oder insgesamt ?" Also schön, als Reporter? "Hmmm", dann denkt er wieder nach, "vielleicht É, ich kann es nicht sagen." Man hätte ihn auch fragen können, wie viele Atemzüge er schon in seinem Leben gemacht hat. Fotografieren ist f…|r Erwitt so ähnlich wie atmen, er macht es immer, er hat immer eine Kamera in Reichweite, und er sagt, dass er viele seiner inzwischen klassischen Bilder erst entdeckte, als er die unzähligen Bögen mit den Kontaktabzügen durchsah. Manchmal, sagt er, wisse er auch nicht mehr ganz genau, wann und wo manches Bild entstanden sei, es seien einfach so viele.

Man kann gar nicht anders, als Erwitt beim Sprechen und Betrachten in seinen Bildern ganz genau zuzuschauen. Er ist eine Sorte Fotograf, die es bald nicht mehr geben wird. Einer, der sein Herz nahe am Auge hat und damit etwas sieht, was wir alle übersehen: die kleine Komik und kleine Leidenschaft des Alltags, die winzigen Momente, in denen Gesten und Mienen mehr sagen als alle Worte.

In unserer Welt der schnellen TV-Bilder einerseits und den digital geschönten Bildkompositionen von Werbung und Mode andererseits geben Erwitts Arbeiten dem Foto noch einmal seine alte Kraft zurück. "Snaps" heißt eines seiner umfangreichsten Bücher, Schnappschüsse, die sich beim Blättern als Mosaiksteine der Wirklichkeit erweisen. Wie kaum ein anderer Fotograf schafft es Erwitt, in seinen Fotos einen Subtext mitzuteilen, eine Emotion, eine Wut, ein wenig Glück, eine Rührung, die man nur erkennt, wenn man genau hinschaut und dabei beispielsweise die Sorge in den Augen einer Mutter erkennt, die auf einer Parkbank steht und ihr Kind sucht. Oder die Ratlosigkeit eines Hundes, dessen Herrchen einen Stock in einen See geworfen hat. "Sehen ohne Denken ist Glotzen", sagt der Werbepapst Kurt Weidemann, und jedes von Erwitts Bildern ist Beweis für denkendes Sehen - seine Fotos haben ein Davor und Danach, sie zeigen, wie Erwitt sagt, im besten Fall "die Essenz eines Geschehens". Technik? Er winkt ab. Er hat zwar in einem Buch ein bisschen über Blenden und Belichtungszeiten erz…dhlt, "aber eigentlich reicht eine Kamera und die Gebrauchsanweisung, dann kann jeder fotografieren. Fotografie hat wirklich keinerlei Geheimnisse. Man muss es nur machen, Bilder, immer und überall. Egal ob für Geld oder umsonst, man lernt alles beim Machen. Und man lernt nichts, wenn man zu Hause bleibt". Zu Hause. In Elliott Erwitts Kindheit ist das sicherlich der verschwommenste Begriff.

Als Sohn russischer Eltern, die aus der Heimat fliehen mussten, wurde Elliott 1928 in Paris geboren und zog mit seinen Eltern gleich weiter nach Mailand, wo er die nächsten zehn Jahre aufwuchs. 1938 flohen die Erwitts vor den italienischen Faschisten nach Paris, von wo die Familie 1939 auf der Flucht vor den Nazis mit dem letzten regulären Passagierschiff in die USA reiste. Elliott blieb in seiner Kindheit ein schüchterner Junge, der die ersten Jahre kein Wort sprach, aber stundenlang ganze Stapel Papier mit seinen Erlebnissen voll schrieb.

In New York, wo die Erwitts landeten, hielt es Vater Boris nicht lange. Mit Elliott fuhr er ein Jahr später quer durch die USA nach Los Angeles, um sich eine neue Existenz als Uhren-Kaufmann aufzubauen. Der Sohn ging zur Schule, wenig später kam die Mutter nach und arbeitete als Kellnerin. Hollywood war schon damals eine Bilderstadt, überall hingen große Fotos von Filmstars, an den Kiosken stapelten sich die Zeitschriften mit Glamour-Fotos und Kriegsbildern; der kleine Elliott saugte alles Gesehene auf und verdiente ein bisschen Geld, von dem er sich endlich seine erste Rolleiflex kaufen konnte.

Die Kamera wuchs an ihm fest. "Ich wurde zu einem Voyeur, ich streifte durch ganz Hollywood und Santa Monica, setzte mich irgendwohin und fotografierte, was ich sah. Ich wusste ganz genau, dass ich Fotograf werden wollte, mir gefiel es, weil es kein Büro-Beruf war", sagt Erwitt heute. Aber erst 1950 wagte er den entscheidenden Schritt. Er packte seine, wie er fand, besten Bilder ein und fuhr nach New York, um sie dem großen Fotografen Edward Steichen zu zeigen. "Viele Fotografen nahmen mich nicht sehr ernst, aber Steichen schaute lange auf meine Bilder und erkannte, glaube ich, meine Handschrift, meinen Stil. Ich habe ihm viel zu verdanken."

Erwitts Leben als Berufsfotograf beginnt, ein harter Job für überschaubares Geld und mit keinerlei Rechten an den Bildern. Erwitt fotografiert für Esso eine Raffinerie und geht für die US Army nach Deutschland und Frankreich, fotografiert Autounfälle und Generäle, die sich die Hände schütteln. Und er fotografiert immer wieder für sich selbst. Straßenszenen, Menschen - und Hunde. In denen sah Elliott schon damals mehr als nur Tiere, er sah in ihnen ein Stück von sich selbst, auch wenn er es bis heute nicht so ausdrückt. Das taten andere. Sein langjähriger Freund Ernst Haas etwa sagte: "Herumstreunende Hunde sind für ihn sehr spezielle Objekte. Er findet, sie führen jenes eins ame, grimmige Leben, das für sein Gefühl dem der Menschheit ziemlich ähnelt." Und seine zweite Frau, die Schwedin Diana, beschrieb einmal ihren Mann als "einen kleinen, traurig blickenden Hund auf seinem Weg zu einer großen Reise oder gerade in der Pause zwischen zwei Reisen". Erwitt selbst ist natürlich wie immer wortkarg. Ja, er mochte eben schon immer Hunde, und dann fällt ihm noch ein: "Sie haben ja nur einen natürlichen Feind: das Auto. Deshalb sind Hunde so glücklich, wenn sie in einem Auto sitzen, da wissen sie, dass sie bestimmt nicht überfahren werden." Erwitts Hundefotos füllen heute ganze Bücher, und er könnte sich rühmen, mit seinen Porträts eine erste Darstellung des Hundes als kulturelles Wesen geschaffen zu haben. Nach über einem Jahr als Army-Fotograf in Europa kommt Erwitt 1952 zurück nach New York. Mit seiner ersten Frau, der Holländerin Lucienne, und seiner Tochter Ellen. In New York ruft ihn die Fotografen-Legende Robert Capa an und lädt ihn ein, Mitglied in der Agentur Magnum zu werden, der ersten, von Fotografen gegründeten Agentur, die bald zu Erwitts Heimat wird. Er ist nun, wenn auch jung, Teil einer Fotografenelite, deren Bildsprache den amerikanischen Fotojournalismus prägt. Er arbeitet für Zeitschriften wie "Collier's" , "Look", "Holiday" und später auch "Life", die sich anfangs zierte, mit Erwitt zu arbeiten. "Damals regierten dort Art Directoren, die jedem Fotografen befahlen, an das Layout zu denken, also einen Aufmacher für die erste Doppelseite, dann ein paar Bilder Substanz und zum Schluss wieder ein großes Foto. Ich hörte oft ,Gute Bilder, aber wo ist die Story?". Aber so war ich eben nicht, ich fotografierte, was ich sah, und konnte kein Layout im Kopf haben", erinnert sich Erwitt. Und ohne Layout im Kopf geli ngen ihm seine besten Aufnahmen, die eine ganze Story in einem Bild erzählen. Wie im Sommer 1959, als US-Vizepräsident Richard Nixon Sowjet-Chef Nikita Chruschtschow auf einer US-Industriemesse in Moskau trifft, und Erwitts Foto dokumentiert, wie mit dem aufbrausenden Nixon und dem brummigen Chruschtschow Kapitalismus und Sozialismus unversöhnlich aufeinander prallen. Oder wie bei jener Fahrt mit Freunden ans Meer, bei der Erwitt auf die Idee kommt, ein sich küssendes Paar im Außenspiegel zu fotografieren - das Bild wurde zu einer internationalen Poster-Ikone, weil es Liebe auf einen kleinen Punkt in der Mitte des Bildes konzentrierte, "als Essenz", wie Elliott Erwitt sagen würde.

Es war dieses Gespür für den einen, entscheidenden Moment, das Erwitt schon Mitte der 50er Jahre für ein ganz anderes Genre interessant machte: Werbung. Er fotografierte eine Imagekampagne für Puerto Rico und Anzeigenserien für einen Cognac - in Farbe, was für ihn neu war und einmalig blieb und bei Magnum zunächst für schlechte Laune sorgte, denn Werbefotografie war das Gegenteil der gehüteten Fotowahrheit. Aber die Gemüter beruhigten sich, als auch andere Fotografen erkannten, wie schwer es war, nur mit Zeitschriften zu überleben. Heute, sagt Erwitt, sei die Fotografie vieler Freiheiten beraubt, "Bilder aus dem Krieg werden zensiert, Bilder von Hollywood-Stars werden manipulier t, und man muss mit etlichen Agenten reden, bevor man ein Bild machen darf. Es ist keine schöne Situation." Vielleicht sieht man ihn deshalb manchmal im Central Park herumlaufen, in der Hand eine Kamera und neben sich seinen Hund. Da hat er alle Freiheiten, die er braucht, und Hunde wollen keine Verträge. Und reden wollen sie auch nicht.

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Jochen Siemens

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