Dieses Gespräch mit den Eltern eines in Winnenden getöteten Mädchens führte Journalist und Buchautor Roman Grafe bereits im September 2014. Es steht in seinem Buch "Spaß und Tod: vom Sportwaffen-Wahn", das gerade im Mitteldeutschen Verlag erschienen ist. Die Fragen sind nicht mit abgedruckt, Mutter und Vater kommen abwechselnd zu Wort.
Christoph Nalepa, 43 Jahre: Am 11. März 2009 war ich zu Hause und habe Bodenplatten verlegt. Ich hörte die Polizeihubschrauber und bin rausgegangen; ich habe nicht gewusst, was los ist. Ich schaltete das Radio an und habe mitbekommen, dass ein Amoklauf passiert ist. Ich bin gleich mit dem Fahrrad rüber zur Schule gefahren.
Barbara Nalepa, 42 Jahre: Eine Ärztin hat uns später berichtet – als sie die Tür zum Klassenzimmer aufgemacht hatten, war so eine Stille, dass man Nicole atmen hörte. Sie hatte einen Durchschuss: eine Kugel in den Rücken, die die Niere verletzt hatte. Nicole wurde mit dem Hubschrauber abtransportiert, weil sie die größten Überlebens-Chancen hatte. Im Hubschrauber hat sie dann einen Herzstillstand erlitten. Nicole ist einfach verblutet. Ich denke, sie hat voller Schmerz sterben müssen und ganz allein. Ich weiß nicht, ob sie an uns gedacht hat. Mir tut es so weh, dass sie so allein war. Und wenn sie noch länger bei Bewusstsein war, hat sie im Klassenzimmer noch ihre erschossenen Freundinnen gesehen.
Christoph: Wir saßen zwei Tage wie gelähmt auf dem Sofa, von morgens bis abends. Wir haben bloß Wasser getrunken und nichts gegessen, außer mal ein Brot.
Barbara: Als Christoph sagte, er geht auf den Friedhof einen Platz suchen, das wollte ich nicht hören. Ich wollte das alles nicht wahrhaben. Christoph hatte die Kraft. Er sagte: "Ich habe für sie einen sonnigen Platz ausgesucht." Wir wussten, dass Nicole Sonne sehr mochte.
Christoph: Wenn ich ans Grab gehe, dann gehe ich Nicole besuchen. Ich küsse dort ihr Foto. – Wir wissen, dass sie tot ist. Und doch muss ich das tun. Ich gehe jeden Tag auf den Friedhof.
Barbara: Ich gehe manchmal zwei-, dreimal am Tag zu Nicole. Wenn Christoph mal nicht am Grab war, habe ich mit Nicole gesprochen und ihr den Grund gesagt, warum der Papa nicht gekommen ist. Ich kann dort mit ihr in Ruhe über alles reden, obwohl ich weiß, sie gibt mir keine Antwort.
Christoph: Wir möchten das Leben weiter mit ihr teilen.
Barbara: Wir haben beim Umzug das ganze Zimmer von Nicole mitgenommen. Manche fragen uns: Warum habt ihr noch die Sachen von ihr? Dann sag ich: Unsere Nicole wird bei uns zu Hause immer ihren Platz haben. So lange, wie wir leben, wird sie mit uns sein. Wir werden mit unserer Tochter weiterleben. Wir wissen, dass Nicole jetzt über fünf Jahre unter der Erde liegt. Ihr wurde alles genommen. Wenn wir im Urlaub sind und Spaß machen, dann tut es im gleichen Moment weh, weil Nicole es nicht erleben kann. Ich weiß, wie gern sie gelebt hat.
Christoph: Die Leichtigkeit ist weg. Wir sind nicht mehr unbeschwert.
Barbara: Ich hätte gern mein unbeschwertes Leben zurück mit meiner Tochter. Mit der ganzen Freude, die wir hatten. Und mit dem ganzen Blödsinn zu Hause, sich manchmal anzuschreien und zu sagen, was Sache ist. Ich habe Nicole beschützt, so gut ich konnte. Ich hatte gedacht, dass die Schule ein sicherer Ort ist, wo ihr nichts passieren kann. Höchstens, wenn sie vielleicht die Treppe runterfällt, dann kann sie sich den Fuß brechen. Mein Kind ist nicht in einen Schützenverein gegangen und hat sich als Zielscheibe hingestellt – sie war in der Schule und wurde von hinten erschossen.
Christoph:Man muss sein Kind in die Schule schicken. Wir haben in Deutschland Schulpflicht.
Barbara: So leben wir wieder mit diesem Risiko. Jeden Tag haben wir Angst, wenn wir unsere beiden jüngeren Kinder zur Schule schicken. Bis zum Ende der vierten Klasse haben wir sie begleitet und wieder abgeholt. Die Kinder haben oft gespürt, dass wir große Angst um sie haben. Diese Angst begleitet uns. Wir haben mit den Kindern immer offen gesprochen und ihnen gesagt, dass wir sie am liebsten zu Hause unterrichten wollen. Wir erleben jede Verabschiedung ganz anders als früher. Wir machen nun immer ein Kreuz auf die Stirn. "Pass auf Dich auf! Wenn etwas ist, rufe sofort an!" Man lässt die Kinder schon los. Aber wenn es in der Schule passiert ist, wo Kinder sicher sein sollen, dann kann es überall passieren. Ich glaube, hier in Winnenden haben viele Angst um die Kinder, weil sie wissen, es ist ganz nah, und es kann jeden treffen. Politiker haben uns nach dem Amoklauf versprochen, dass sich etwas ändern wird. Doch es hat sich nichts getan.
Christoph: Sie lassen einfach zu, dass Menschen mit diesen Waffen ermordet werden. Sie nehmen es in Kauf. – Dass man durch eine illegale Waffe sterben kann, wissen wir. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass die Kinder mit einer legalen Waffe getötet wurden.
Barbara: Wir sind überzeugt, es passiert irgendwann wieder.
Christoph:Wenn es wieder passiert, dann werde ich zur Trauer-Veranstaltung fahren. Und dann werde ich, wenn es möglich ist, die Politiker fragen, warum sie dort sind.
Barbara: "Haben Sie etwas zu trauern?", werden wir fragen.
Christoph: Ich würde ihnen sagen, dass sie alle Mörder sind. Sie haben dazu beigetragen, dass die Kinder in Winnenden nicht mehr leben: Sie ändern das Waffengesetz nicht.
Barbara: Wenn so eine Veranstaltung nochmal in einer Kirche ist, dann werde ich fragen, warum die christlichen Parteien hier sind. Ihr nennt Euch Christen! Ich habe etwas anderes gelernt: Gott hat uns zehn Gebote aufgestellt, eins lautet: "Du sollst nicht töten!" Was macht Ihr hier? Ihr erlaubt tödliche Sportwaffen.
Christoph: Dass man die Waffen so schnell nicht wegkriegt, wussten wir. Doch wir wollten die Schulen sicherer machen.
Barbara: Mein Gedanke am Anfang war, mit der Waffen-Lobby wird es bestimmt nicht leicht. Dieser Kampf wird länger dauern. Doch ich habe gedacht, dieses schlimme Geschehen, der Verlust meiner Tochter und der anderen Kinder beim Amoklauf, wird die Politiker aufwecken. Da muss sich etwas bewegen. Ich habe wirklich geglaubt, dass die Politik etwas machen wird. Aber die Waffen sind noch da.
Christoph: Ich habe eigentlich gewusst, dass unsere Verfassungsbeschwerde zur Verschärfung des Waffenrechts abgelehnt wird. Aber ich habe gehofft, dass es doch anders kommt. Den Ball zurück zur Politik zu werfen, war das Billigste, was passieren konnte. Die Richter wollten sich überhaupt nicht damit beschäftigen. Sie wollten das Gesetz nicht ändern.
Barbara: Und mit so einer kurzen Begründung! Das wollte ich nicht glauben. Sie haben einen Menschen und eine Waffe auf zwei Waagschalen gelegt. Und die Waffe hat überwogen.
