Ein Junge, zehn Jahre alt, sitzt über ein Schreibheft gebeugt, die Zipfel seines roten Pionier-Halstuchs streifen die Seiten. Unermüdlich kopiert er Schriftzeichen. Es ist Spätherbst, die tiefe Nachmittagssonne scheint durch die Fenster eines Zentrums für Hausaufgabenbetreuung in der Nähe einer Grundschule in Shanghai.
Man solle ihn "Rex" nennen, sagt der Junge, der einmal Zoologe werden will, den Spitznamen hat er von seinem Lieblingssaurier. Rex, große Brille, stacheliges Haar, sagt, sein Vater habe an der Tongji-Universität studiert, der drittbesten Hochschule des Landes. "Da soll ich auch hin. Oder an eine noch bessere."
Für das "Gaokao", Chinas gefürchtetes Uni-Zulassungsexamen, müssen Schüler ein paar Tausend Schriftzeichen kennen. Jahr für Jahr, Zeile um Zeile wird Rex die immer gleichen Strichfolgen wiederholen, wie es in China Millionen tun an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend.
Er habe einen Cousin, sagt Rex, der gehe auf die viertbeste Oberschule von Shanghai. "Mama sagt, da soll ich auch hin. Oder auf eine noch bessere."
Yi Wei, die Hausaufgabenbetreuerin, rollt die Augen. "In jeder Familie gibt es diesen einen Cousin, den dir alle vorhalten."
Yi Wei, 32, hat hinter sich, was Rex vor sich hat. Eine Jugend, die im Wesentlichen auf das Gaokao zusteuert. Jahre des Auswendiglernens, in den Ohren Ermahnungen der Eltern, vor Augen das Vorbild fleißiger Cousins. Am Ende bekam Yi einen Studienplatz, Chinesisch und Anthropologie, nicht an der besten Uni, aber für einen guten Job, einen besseren als ihren jetzigen, hätte es eigentlich gereicht.
Wenn Yi nicht irgendwann den Ehrgeiz verloren hätte.
"Jugend der vier Verneinungen"
Jetzt hilft sie Schülern bei den Hausaufgaben, im Betreuungszentrum, das eine Tante von ihr betreibt. Hat keine Kinder, keinen Mann, nicht einmal einen Freund, auch keine eigene Wohnung. Mit Anfang 30 lebt sie noch bei ihren Eltern, die nicht verstehen, was mit ihr los ist. Deinetwegen, sagt der Vater, kann ich vor Scham niemandem ins Gesicht schauen. Deinetwegen, sagt die Großmutter, kann ich vor Sorge nicht schlafen.

Die Mutter arrangiert Verabredungen für sie, mit unverheirateten Söhnen aus dem Bekanntenkreis. Jedes Mal, sagt Yi, gehe sie dann lustlos mit jungen Männern essen, mit denen sie nichts verbinde als das Stöhnen über die Eltern.
Kurz, Yi gehört zu jenen jungen Chinesen, die in einem kürzlich an die Öffentlichkeit gelangten Parteipapier als "Jugend der vier Verneinungen" bezeichnet werden: kinderlos, unverheiratet, anbandelungsunwillig und ohne Wohneigentum. Man müsse aus ihnen, fordert das Papier, eine "Jugend der vier Bejahungen" machen.