Sozialpsychologe klärt auf Diskriminierendes Gedankengut: Warum haben wir eigentlich Vorurteile?

Ein Mann zeigt mit wütendem Blick auf den Betrachter.
Vorurteile hat jeder von uns – aber nicht jeder lebt sie in Form von Diskriminierung auch aus.
© Adi Holstein / Unsplash
Frauen können schlecht einparken und Männer hören nicht zu: manche Klischees kennt gefühlt jeder. Manch ein Vorurteil mündet allerdings in Diskriminierung. Aber warum haben wir überhaupt Vorurteile? Sozialpsychologe Prof. Dr. Ulrich Wagner von der Universität Marburg erklärt, warum wir alle in Schubladen denken.

Herr Wagner, wir leben in einer sehr aufgeklärten Zeit. Rassismus und Antisemitismus werden genauso angeprangert, wie die strukturelle Benachteiligung von Frauen oder Menschen mit Behinderungen. Sie forschen seit mehreren Jahrzehnten über Vorurteile. Wie hat sich Ihr Forschungsfeld verändert?
Es scheint so, als ob Vorurteile insgesamt zurückgegangen sind. Dafür gibt es heute subtilere Formen der Diskriminierung. Kaum jemand macht noch einen plump rassistischen Witz. Stattdessen weist man zum Beispiel auf Unterschiede hin: die "Fremden" sind eben ganz anders, was auch wieder dazu beiträgt, sie auszugrenzen. 

Prof. Dr. Ulrich Wagner
Ulrich Wagner ist Doktor der Philosophie und Professor für Psychologie an der Universität Marburg. Mit dem Fokus auf Sozialpsychologie liegt sein Forschungsbereich bei Intergruppenkonflikten und der Prävention von Diskriminierung, Aggression und Gewalt. Ein wesentlicher Bestandteil seiner wissenschaftlichen Arbeit dreht sich deshalb um die Frage, warum wir Vorurteile haben – und was wir dagegen tun können. 
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Sie sagen, wir sind subtiler im Ausdruck unserer Vorurteile geworden. Trotzdem gibt es gefühlt heutzutage deutlich mehr Menschen, die Diskriminierung thematisieren. Wie geht das zusammen?
Was wir gerade in Deutschland erleben ist, dass Minderheiten sehr sensibel geworden sind für unterschwellige Vorurteile, zum Beispiel wenn Menschen mit schwarzer Hautfarbe auf eine subtile Art und Weise anders behandelt werden. Das wird zu Recht angeprangert. Manchmal kann diese Sensibilität aber auch dazu beitragen, dass Äußerungen aus der Mehrheitsgesellschaft, die nicht böse gemeint sind, als Indikator für Abwertung genommen werden. Hier gilt es, die Sorgfalt und den gegenseitigen Respekt auf beiden Seiten zu schulen.

Der Unterschied zwischen Vorurteilen und Diskriminierung

Diskriminierung basiert auf Vorurteilen. Warum haben wir eigentlich Vorurteile gegenüber anderen Menschen?
Wir sind als Menschen daran gewöhnt, unsere Umwelt in Kategorien einzuteilen. Das können Berufsgruppen sein, die Herkunft oder auch das Geschlecht. Viele dieser Kategorien werden uns von der Gesellschaft mitgegeben, wie Unterscheidungen nach dem Geschlecht oder nach der Berufsgruppenzugehörigkeit. Viele der Kategorien nehmen Unterscheidungen vor, die keine physikalische oder biologische Basis haben, wie die nach ethnischen Gruppen. Auf genetischer Ebene lassen sich Menschengruppen, wie Menschen schwarzer oder weißer Hautfarbe, nicht so klar trennen. Es gibt kaum genetische Unterschiede, die ethnischen Kategorien sind also konstruiert und nicht natürlich.

Das klingt ein bisschen so, als wenn jeder Mensch sich seine ganz eigene Wirklichkeit konstruiert…
Jaein. Kategorisierung ist nicht per se schlecht. Wir brauchen sie, um unserem Leben eine Struktur zu geben und zu wissen, wo unser Platz ist. Ein Beispiel: Wenn Sie sich verletzt haben, fahren Sie ins Krankenhaus zur Notaufnahme und suchen Menschen mit einem weißen Kittel, weil Sie wissen, dass es sich dabei wahrscheinlich um Ärzt:innen handelt. Sie würden sich niemanden mit einem grauen Mantel raussuchen, weil ein solcher Mensch womöglich der Kategorie der Hausmeister angehört.

Und wann wird aus der hilfreichen Kategorisierung ein Vorurteil?
Bei Vorurteilen findet nicht nur die Kategorisierung des Umfeldes statt, sondern auch meine eigene. Das heißt, ich definiere mich über eine bestimmte Gruppe. Wenn ich meine eigene Gruppe im Vergleich zu anderen besonders erfolgreich darstelle, also die Anderen abwerte, werte ich damit auch mich selbst auf. Dieser Prozess ist umso stärker, je stärker ich mich mit einer Gruppe identifiziere. Diejenigen zum Beispiel, die jetzt den Erfolg der englischen Frauennationalmannschaft nur als Glück abwerten, müssen sich fragen lassen, ob sie das nicht auch tun, um damit ihre eigene nationale Identität zu stärken.

Was unsere Eltern mit Vorurteilen zu tun haben

Die nationale Identität wird uns mit unserer Sozialisation mitgegeben. Was beeinflusst die Entstehung von Vorurteilen noch?
Bei Vorurteilen spielt auch der soziologische und gesellschaftliche Aspekt eine Rolle. Wir werden alle in eine Gesellschaft reingeboren, in der es bestimmte Bilder von Fremden gibt. Wir alle wissen zum Beispiel gut, was das Stereotype von Juden ist. Dieses Menschenbild ist in westlichen Gesellschaften Jahrtausende alt. Diejenigen, die Vorurteile vermeiden wollen, benutzen das gesellschaftlich übermittelten Stereotype nicht, sondern unterdrücken es bewusst, weil sie wissen, dass es diskriminiert. Vorurteilige Menschen lassen das übernommenen Stereotype eher freien Lauf. Aber auch bei Menschen, die nicht vorurteilig sein wollen, können solche Stereotypen aufkommen, wie beispielsweise unter Stress.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Haben Sie dafür ein Beispiel?
Im Streit mit einer anderen Person fällt mir zum Beispiel auf, dass der Streitgegner einer Gruppe angehört, die angeblich sehr laut und aggressiv ist. Und schon greife ich doch auf diese gesellschaftlichen Klischees zurück und erkläre mir die Situation scheinbar damit. Vielleicht ist der Gegenüber aber auch einfach persönlich ein Streithansel, und sein Veralten hat mit seiner Gruppenzugehörigkeit nichts zu tun.

Sie haben eben gesagt, dass es Menschen gibt, die Vorurteile vermeiden wollen – und welche, die sich darum nicht gerade bemühen…
Genau. Wir unterscheiden uns in der Ausprägung unserer Vorurteile und in der Bereitschaft, etwas dagegen zu tun. Auch Menschen mit wenig Vorurteilen kennen die gesellschaftlichen Stereotype über Minderheiten, aber sie investieren Energie, um sich von diesen Klischees nicht überwältigen zu lassen. Menschen mit vielen Vorurteilen ist der Rückgriff auf gesellschaftlich überlieferte negative Stereotype hingegen oft egal, oder sie greifen solche Stereotype sogar aktiv auf. Das führt dann auch zu bestimmten Kommunikationen mit anderen. Man sucht sich ein Umfeld, in dem die eigenen Vorurteile geteilt werden oder zieht in sozialen Netzwerken gemeinsam über andere her. In extremer Form können wir das bei Rechtsradikalen beobachten.

Was entscheidet denn darüber, ob ich wenig oder viele Vorurteile habe?
Die unterschiedliche Ausprägung von Vorurteilen hat verschiedene Ursachen. Einerseits hängt die Stärke von Vorurteilen davon ab, wie wir gelernt haben, miteinander umzugehen. Vorurteile werden oft in Familien weitergegeben, wenn Kinder zum Beispiel mitbekommen wie ihre Eltern antisemitische Witze machen. Hinzukommt, dass wir durch die Abwertung von fremden Gruppen unser Selbstbewusstsein stärken können. Eine solche Abwertung findet besonders dann statt, wenn wir uns von fremden Menschen bedroht fühlen.

Haben Sie dafür ein Beispiel?
Zur Jahreswende 2015-16, als in Köln eine Gruppe männlicher Jugendlicher mit Migrationshintergrund massiv übergrifflich gegen Frauen wurden, wurden solche Ängste und entsprechende Feindbilder geschürt. Nach den Übergriffen verbreitete sich bei vielen Menschen die Überzeugung, dass nicht nur die Täter in Köln gefährlich seien, sondern Geflüchtete ganz generell.

Damals gab es auch eine recht tendenziöse Berichterstattung über die Ereignisse…
Medien und Politik spielen natürlich eine große Rolle bei der Entstehung von Bedrohungsgefühlen. Daraus ergibt sich auch eine große Verantwortung der Medien. Da gibt es allerdings auch ein Dilemma: Medien sollen berichten, was passiert, und gleichzeitig stehen sie in der Gefahr, unbegründete Ängste und Vorurteile zu schüren. Viel hängt davon ab, wie Medien über Vorfälle berichten Ich finde: der ungeschönte Bericht muss sein, bedrohliche Bilder aber nicht.

Gibt es Menschen ohne Vorurteile?

Aber habe ich als Privatperson durch die Digitalisierung und die große Medienvielfalt nicht erst recht die Möglichkeit, Themen aus vielen Blickwinkeln zu betrachten und damit möglichst wertfrei an sie heranzugehen?
Nicht unbedingt. Ein besonderer psychologischer Mechanismus trägt dazu bei, dass wir uns gerne mit Gleichgesinnten umgeben und uns dementsprechend auch informieren. Wenn wir uns nämlich einmal eine Meinung zu bestimmten Dingen, zum Beispiel über eine bestimmte Gruppe, gebildet haben, wollen wir oft nicht mehr prüfen, ob wir mit unserer Überzeugung richtig liegen. Wir suchen stattdessen eine Bestätigung dafür, dass wir richtig liegen. Das führt zu meinungsgleichen Freundeskreisen und zu Filterblasen im Netz. Auf diesem Weg, weil wir immer wieder nach sozialer Unterstützung für das suchen, was wir richtig finden, verstärken sich dann Vorurteile immer mehr.

Gibt es denn Menschen, die besonders zu Vorurteilen neigen?
Diejenigen, die auf anderem Wege keine Anerkennung bekommen können und in der Leistungsgesellschaft nicht vorankommen und deren Selbstwert infolgedessen gefährdet ist, greifen im Zweifel eher auf Kategorien zurück, die ihnen niemand nehmen kann. Das ist zum Beispiel die nationale Zugehörigkeit.

Und wie sieht es mit Menschen ohne Vorurteile aus?
Ob es Menschen ohne Vorurteile gibt? Das bezweifle ich. Theoretisch ist das denkbar, aber ich glaube es nicht. Man kann sich nicht immer gegen die beschrieben Mechanismen wehren. Wir können aber, als Einzelpersonen und als Gesellschaft, etwas gegen diskriminierendes Verhalten tun – und darauf kommt es besonders an.