Einst hat er wilde Raves organisiert, zu denen Drogen genauso dazugehörten wie harte Techno-Beats. Heute veranstaltet Gideon Bellin nüchterne Partys, die sogenannten "Sober Sensations", bei denen die Gäste einen Rausch ohne Rauschmittel erleben sollen. Vor drei Jahren kam das "Natural High" dazu, ein alkohol- und drogenfreies Festival (einen Erfahrungsbericht lesen Sie hier bei stern+). Die Idee scheint einerseits perfekt zum gesundheitsbewussten Zeitgeist zu passen, der "Mindful Drinking"-Bewegungen und alkoholfreie Spirituosen hervorbringt. Andererseits können sich (sehr, sehr) viele Menschen nach wie vor kaum vorstellen, ohne Alkohol feiern zu gehen. Schon gar nicht mehrere Tage am Stück. Laut dem Festival-Gründer braucht es aber nur zwei Dinge, um Spaß zu haben: die richtigen Leute und die richtige Musik – und vielleicht ein bisschen Übung. Weil es in der lockeren Atmosphäre auf seinem Festival so üblich ist, duzen wir uns im Gespräch.
"Natural High" heißt dein Festival, das bereits zum dritten Mal stattfindet. Die Besucher sollen hier komplett ohne Rauschmittel auskommen. Wovon genau sollen sie high werden?
Das funktioniert durch die Ansprache der Sinne. Die Ästhetik ist wichtig: die Location, die Dekoration, Lichteffekte, Nebel. Aber auch, dass die Getränke gut schmecken und gut riechen. Und die Musik muss stimmen. Aber es geht auch von den Leuten aus, von dem Vibe, den die Gäste ausstrahlen. Wenn das alles zusammenspielt, merkt man, dass man von der gesamten Atmosphäre high wird. Alkohol hingegen betäubt die Sinne. Ohne ist man viel klarer und kann viel mehr wahrnehmen. Es ist wie beim "Runner's High", wenn Dopamin ausgeschüttet wird und man gar nicht mehr merkt, dass man läuft.
Hast du das dieser Tage bereits erlebt?
Wir hatten gestern in der Schachtofenbatterie eine Silent Party. Dabei bekommt jeder einen Kopfhörer und es gibt drei Kanäle mit verschiedenen Musikrichtungen, durch die man sich durchschalten kann. Es kam so gut an, dass alle voll abgegangen sind und sich wie kleine Kinder gefreut haben. Ich war so richtig im Modus, habe getanzt und die Leute um mich herum jubeln gehört – dabei habe ich das High gespürt.
Die alkoholfreien "Sober Sensation"-Partys gibt es schon länger. Wie kamst du dazu, aus dem Konzept ein ganzes Festival zu machen?
Die "Sober Sensation" machen wir schon seit sechs Jahren. Ich habe vorher Underground-Partys in Berlin organisiert und Techno-Partys im Wald, das war ganz anders. Ich habe gemerkt, dass ich das nicht mehr will, dass ich nicht mehr dahinterstehen konnte. Es hat mir nicht mehr gefallen. Es war zu viel, die Leute waren zu drüber und es war eine asoziale Atmosphäre. Deshalb habe ich mit den Sober Partys angefangen. 2021 hatten wir dann die Möglichkeit, das Festival zu veranstalten.
Die ersten Jahre waren schleppend. Natürlich ist der Umsatz ein anderer, wenn man keinen Alkohol ausschenkt. Den meisten Umsatz machen solche Events in der Regel mit Alkohol. Wir hingegen machen den meisten Umsatz mit den Einlässen. Zwar auch mit Getränken, aber auf einem anderen Level als Festivals mit Alkohol. Wir wollen die Leute inspirieren statt missionieren. Wir wollen ihnen was mitgeben, sie dazu animieren, es ohne Alkohol zu probieren und zeigen, dass man auch nüchtern feiern kann. Wir wollen etwas verändern. Das ist der Grund, warum wir das machen.
Merkst du, dass sich in der Gesellschaft etwas verändert hat beim Thema Alkohol?
Auf jeden Fall. Ich habe einst sogar meine Bachelor-Arbeit darüber geschrieben: Sober Partys ohne Alkohol als Alternative zum Feiern. Damals war es noch so, dass die Leute darüber gelacht haben. Aber schon zu der Zeit habe ich gemerkt, dass eine Bewegung in die Richtung geht. Dass es mehr alkoholfreie Getränke gibt, dass die Leute mehr Fitness machen und Wert auf Gesundheit legen. Das ist ein Thema, das sich entwickelt hat in den letzten Jahren. Und der Trend geht immer weiter. Die Work-Life-Balance hat sich verändert. Die Leute wollen mehr leben. Und um mehr zu leben, muss man auf seine Gesundheit achten. Die junge Generation von heute legt darauf viel Wert.
Wo siehst du den Haupt-Unterschied zwischen einem Festival, wo Alkohol getrunken wird und einem nüchternen Festival?
Ich habe das Gefühl, dass die Atmosphäre hier ganz anders ist. Dass die Leute viel klarer sind, aber gleichzeitig alles viel familiärer abläuft. Eben weil man klarer im Kopf ist. Die Leute haben die gleiche Einstellung, haben Lust, zu reden und sich kennenzulernen. Von Frauen höre ich auch oft, dass sie nicht blöd angemacht werden, sondern sich frei bewegen können. Es ist eine andere Dynamik als bei anderen Festivals. Man merkt auch, dass die Leute früher ins Bett gehen und am nächsten Morgen easy wieder aufstehen. Der Rhythmus ist natürlicher.

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?
Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.
Gibt es Besucher, die trotz des Verbotes versuchen, Alkohol aufs Gelände zu schmuggeln?
Ja, klar, das gibt es immer. Das sind meistens Leute, die gar nicht können ohne Alkohol. Viele haben damit Probleme. Sie denken, sie brauchen das, um locker zu sein. Die müssen das Gelände dann aber sofort verlassen. Wir sind da aber inzwischen sehr streng, weil wir viele Gäste haben, die das als Safe Space sehen.
Viele sind mit Kindern da, aber es gibt auch Leute, die schlechte Erfahrungen mit dem Thema gemacht haben, anonyme Alkoholiker zum Beispiel oder Suchtabhängige, die diesen Safe Space brauchen, um sich wohlzufühlen. Auch die DJs stehen voll hinter dem Konzept. Viele haben uns von sich aus kontaktiert und gesagt, dass sie unbedingt ein Teil dessen sein wollen, weil sie auch schon länger nüchtern sind oder eine wilde Zeit hinter sich haben und jetzt clean sind.
Du hast es eben angesprochen – viele denken, dass sie ohne ein paar Getränke nicht aus sich rauskommen können. Wie schafft man es, sich ohne Alkohol auf die Tanzfläche zu trauen?
Wir haben verschiedene Workshops, die auch als Ice Breaker fungieren. Man lernt sich kennen und hat Augenkontakt, dabei fallen schon ein paar Barrieren. So lernt man automatisch Leute kennen; eine Community, in der alle ähnlich sind und ähnliche Interessen haben. Dabei kann man auch schon aus sich rausgehen. Am Freitag gab es zum Beispiel den Animal Flow Workshop, wo man Tierbewegungen nachmacht, das war sehr witzig. So etwas kann einen schon aus der Komfortzone rausholen und das Eis brechen. Man kann alle gesellschaftlichen Konventionen fallen lassen und man selbst sein – aber man muss sich natürlich darauf einlassen.
Das hört sich super an, aber wie kann ich das Zuhause umsetzen, wenn ich zum Beispiel am Wochenende im Club feiern gehen will?
Es ist eine Einstellungssache. Die meisten denken, sie müssen was trinken, um eine coole Zeit zu haben und locker zu werden, aber das ist meiner Meinung nach ein Trugschluss. Es ist wie ein Klicker im Kopf, den man umlegt. Das hat auch viel mit Selbstbewusstsein zu tun, dass du verstehst, wer du bist und dir selbst bewusst bist. Man kann das aber trainieren. Die ersten Male, als ich ohne Alkohol feiern war, hat sich das komisch angefühlt, aber nach einer Weile war es super und ich habe gemerkt, dass ich es nicht unbedingt brauche. Man kann auch mit Mate oder Wasser feiern gehen. Es kommt auch auf das Umfeld an: Wo bist du unterwegs? Mit wem bist du unterwegs? Spricht dich die Musik an? Wenn man die Musik mag, bewegt es einen auch, ohne dass man dafür etwas trinken muss. Wenn die Musik stimmt, die Menschen stimmen und die Atmosphäre stimmt, braucht man nicht viel mehr.

Wann hast du eigentlich zuletzt getrunken?
Wahrscheinlich letzte Woche. Ich bin nicht komplett alkoholfrei unterwegs, sondern versuche, die Balance zu halten. Das habe ich als Jugendlicher nicht gehabt, da habe ich sehr viel getrunken. Jetzt habe ich es besser im Griff – man ist am nächsten Tag sonst auch einfach kaputt. Ich will inspirieren, nicht missionieren. Ich will den Leuten nichts verbieten, sondern einfach zeigen, dass es auch ohne Alkohol geht.