Früher war nicht alles besser. Manche Dinge waren sogar ziemlich schräg. Aber Nostalgie ist eine seltsame Sache: Mit genügend Abstand verursachen einem Phänomene, die man damals bitterernst nahm und anschließend lange völlig egal fand, plötzlich ein wohlig-warmes Gefühl im Bauch, wenn man an sie denkt. Diese Kolumne soll einen liebevollen, aber prüfenden Blick auf die Vergangenheit werfen. Was war so cool, dass man ihm mit Recht nachtrauern darf? Und was ist in den Untiefen der Geschichte eigentlich ganz gut aufgehoben?
In den frühen 2000ern, als DSL noch klang wie eine seltene Krankheit und der CD-Brenner das wichtigste Familienmitglied nach dem Hund war, sah ich in mir einen digitalen Rebellen – kaum dem Sandkasten entwachsen, aber schon bewaffnet mit Kazaa, Limewire und einem zweifelhaften Musikgeschmack. Die Welt war analog, aber meine Ambitionen waren es nicht. Während andere Kinder Sticker sammelten oder Fahrrad fuhren, sammelte ich MP3-Dateien – die meisten davon mit fragwürdiger Tonqualität, dafür kostenlos. Ich lud Songs herunter, als gäbe es kein Urheberrecht. Und juristisch betrachtet war das gar nicht so weit hergeholt: Ich war gerade mal zwölf Jahre alt, strafunmündig, technisch versiert und moralisch flexibel.
Musik herunterladen: eine Erfüllung
Damals war Musik nicht einfach verfügbar. Sie war ein Ziel. Kein gut sortierter Katalog in einer App, keine Playlists, die einem je nach Stimmung vorgesetzt wurden. Musik musste gesucht, gefunden, erobert werden. Ein Lied kam nicht auf Knopfdruck – es kam nach Stunden des Wartens, endlosen Ladebalken und dem nervösen Blick über die Schulter, ob das Modem wieder die Telefonleitung blockiert hatte. Die digitale Schatzsuche begann oft nach dem Abendessen und endete irgendwann tief in der Nacht mit einem Lied, das man dann stolz auf einen gebrannten Rohling bannte. Das war kein einfacher Konsum. Das war Hingabe.
Napster, Kazaa, Limewire – das waren keine Plattformen. Das waren Legenden. Digitale Flaschenzüge, mit denen man aus der Tiefe des Internets musikalische Beute ans Tageslicht zog. Die Bedienoberflächen waren spartanisch, die Risiken hoch. Jeder kannte jemanden, der jemanden kannte, der angeblich 10.000 Euro Strafe zahlen musste für einen einzigen heruntergeladenen Song. Oder war es der Upload, der bestraft wurde? So ganz genau wusste das niemand, nicht einmal die, die bestraft wurden. Denn das Fiese an Limewire & Co. war, dass sie jeden heruntergeladenen Song automatisch hochluden. So funktionierten die Peer-to-Peer-Netzwerke. Besonders gefährlich, so hieß es, sei Bushido. Warum, wusste keiner genau. Aber der Mythos reichte, um ihn konsequent aus meiner Download-Liste zu streichen. Sicher ist sicher.
Illegaler Download: Ging nicht immer gut
Jeder Song war ein kleines Abenteuer. Man klickte auf eine Datei, oft kryptisch benannt, gern mit Versprechungen wie "HQ", für High Quality, oder "No Virus" (als ob) und wartete. Eine 3,5 MB große Datei konnte gut 20 Minuten oder länger brauchen. DSL war ein ferner Traum, das Modem schnaufte wie ein altersschwacher Staubsauger, und jede Telefonunterbrechung bedeutete: von vorn anfangen. Aber irgendwann war es dann so weit. Der Song war da. Man klickte auf "Play", und statt 50 Cent ertönte ein blechernes DJ-Set aus einer sibirischen Dorfdisco, durchsetzt von Werbeeinspielern oder Schlimmerem. Aber aufgeben? Kam nicht infrage. Die nächste Datei lag schon in der Warteschlange.
Rückblickend war das Ganze nicht nur ein Akt der Rebellion, sondern fast eine Art musikalische Erziehung. Ich lernte, zwischen Qualität und Fake zu unterscheiden, ich wusste, welcher Song wie lang sein musste, um echt zu sein, und entwickelte ein feines Gehör für Komprimierungsartefakte. Musik bekam dadurch eine Tiefe, die heute schwer vorstellbar ist. Nicht, weil sie besser war. Oft war sie objektiv schlechter. Aber es war harte Arbeit, sie zu bekommen, und wir alle wissen: Wir mühen uns nur für das, was wir lieben, und so stieg mit jeder Minute des Wartens der Genuss der Musik. Und es war verboten, sie herunterzuladen. Seien wir ehrlich: Verbotene Früchte schmecken besser, und ein bisschen Nervenkitzel lässt jede Melodie aufregender klingen.
Warum ich aus dem Schneider bin
Mittlerweile sind meine Jugendsünden genauso verjährt wie mein Motorazer V3. Laut Paragraf 78 des Strafgesetzbuchs verjährt die Urheberrechtsverletzung nach spätestens zehn Jahren – selbst wenn da ein ganzer Festplattenordner voller Chart-Hits betroffen war. Ich streame heute wie alle anderen. Zahle brav meine Beiträge. Klicke auf Play und bekomme sofort kristallklaren Sound.

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Und doch: Manchmal vermisse ich das Kribbeln. Nicht die Umstände. Gott bewahre, ich will nie wieder mit Kazaa arbeiten müssen. Aber das Gefühl, dass ein Lied etwas wert war, mehr jedenfalls als ein Algorithmus-Vorschlag oder ein Hintergrundgeräusch. Dass ich dafür Zeit und ein bisschen kriminelle Energie investieren musste.
Und Bushido? Den höre ich immer noch nicht. Aus Prinzip.
Alle Texte unserer Nostalgie-Reihe finden Sie hier: Gefühlt gestern