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Jagoda Marinić Rolf Mützenich und die Expertenfeindlichkeit: Das ist doch Grütze, nicht?

Der SPD-Fraktionsvorsitzende diskreditiert Experten, die sich in Talkshows äußern und fordert stattdessen deren Gefolgschaft ein
Der SPD-Fraktionsvorsitzende diskreditiert Experten, die sich in Talkshows äußern und fordert stattdessen deren Gefolgschaft ein
© Illustration: Lennart Gäbel
Politiker wie der SPD-Fraktionschef haben neue Gegner entdeckt: Leute, die sich mit etwas auskennen.

Der Historiker Timothy Garton Ash twitterte kürzlich ein Bild von Olaf Scholz, darauf ein neues englisches Wort: "scholzing." Scholzing heißt, gute Intentionen zu verkünden, nur um anschließend alle erdenklichen Gründe vorzuschieben, damit es nicht geschieht.

Egal, wie man zur Lieferung von Leoparden an die Ukraine steht, der Kommunikationsstil unseres Bundeskanzlers ist jetzt schon legendär negativ. Neben "scholzing" müsste es allerdings noch etwas wie "mützenichen" geben. Rolf Mützenich ist der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und hat vermutlich deshalb noch kein eigenes englisches Verb, weil ihn international zu wenige kennen. Sein Kommunikationsstil könnte beschrieben werden mit: Elefant im Porzellanladen. Wann immer Deutschland endlich doch zu Potte kam – nachdem sich die halbe Welt über Berlin gebeugt hatte wie über eine Glaskugel, ratlos, wo es wohl langgehen wird –, tut Mützenich so, als sei alles von Beginn an klar gewesen und die Regierung habe nur nachgedacht. Wie groß der Kollateralschaden dieser Glaskugelphasen ist, scheint er nicht zu erkennen. Weiß er, wie hilfreich es sein kann, wenn Machthaber sich erklären, statt zu warten, bis sich eine Mauer von Missverständnissen aufgebaut hat?

Mützenich und die Experten

Jagoda Marinić
© Gaby Gerster

„Jagoda Marinic schreibt in ihrer Kolumne über in die Welt, wie sie ihr gefällt - oder auch nicht gefällt. Sie ist Autorin verschiedener Bücher (zuletzt "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?“, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“) und Host des Podcasts "Freiheit Deluxe". Als Moderatorin der Literatursendung "Das Buch meines Lebens" (arte), fragt sie bekannte Persönlichkeiten, wie das Lesen ihr Leben verändert hat. Auf Twitter und bei Instragram findet man sie unter @jagodamarinic“

Rolf Mützenich kann es jedoch nicht lassen, sich über Experten zu echauffieren. Da wagen es tatsächlich Menschen in Deutschland, über die Lage der Nation laut nachzudenken, wenn ein europäisches Land militärisch überfallen wird. Er ärgere sich über "angebliche" Expertinnen und Experten, die sich so zahlreich in Talkshows mit nicht immer gut gemeinten und durchdachten Ratschlägen zu Wort meldeten. "Vor allem: Sie kennen nicht den Stand und Gehalt notwendiger Verabredungen mit unseren Partnern. Jeder Zwischenruf, der ja oft allein zur Selbstdarstellung geäußert wird, muss in Moskau falsch gedeutet werden", verkündete Mützenich. Er mag andere damit gemeint haben, verletzt hat er jedoch die profiliertesten Expertinnen und Experten im Land, die seit einem Jahr über ihre alltäglichen Herausforderungen hinaus und oft unter hohem persönlichem Einsatz den Krieg in der Ukraine erklären. Die Militärexpertin Claudia Major etwa fand das "Infragestellen von Kompetenz, weil Expert*innen nicht auf Linie der SPD sind", beunruhigend. Wo bleibe das Lernen "von- & mit einander"? Letztlich laute die Frage, ob man eine unabhängige Wissenschaft will oder "nur noch Gefolgschaft zählt".

Unsere Gesellschaft steht vor Krisen, die wir nicht meistern werden ohne die Bereitschaft von Experten, sich in Diskurse einzubringen. Klima, Kriege, Migration – all das braucht kluge Köpfe, die bereit sind, trotz des Hasses und des Gegenwinds ihr Wissen öffentlich zu teilen. Wenn nun mächtige Politiker wie Mützenich gerade jene angreifen, die sich kompetent in den demokratischen Diskurs einbringen, erweist er der Demokratie einen Bärendienst.

Talkshows sind ein heißes Pflaster

Für viele Experten sind Talkshows Grenzgänge, verbunden mit Risiko und Frust, weil man kaum über drei Minuten Redezeit hinauskommt. Das eigene Wissen zu verdichten ist eine Kunst. Auch wenn Talkshows oft verspottet werden, sind sie doch ein Politikformat, das ein Millionenpublikum anzieht. Was Experten dort am wenigsten darstellen können, ist sich selbst. Es wäre hilfreich, wenn prominente Politiker nicht zu mehr Intellektuellenfeindlichkeit beitrügen, sonst entsteht der Eindruck, so ein bisschen autoritär schadet nie. Vielleicht rückt man sich auf diese Art unfreiwillig noch näher zu Putin.

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