Helden habe ich immer bewundert – und wollte nie einer sein. Helden müssen am Ende immer sterben, wusste ich dank des Schicksals von John F. Kennedy. Schon als Kind dachte ich, dass einer mit diesem merkwürdig hellen Charisma sich nicht ganz sicher fühlen konnte. Ich wüsste nicht, welcher Präsident heute Kennedys Strahlkraft besitzt; solche Leuchtfiguren kommen nicht mehr an die Macht, sie sitzen in den Folterkammern der Autoritären. Dabei bräuchte es sie, das Dunkel zu besiegen, um es mal mit "Star Wars" zu sagen.
Helden, was für ein unzeitgemäßer Begriff und doch trifft er auf einen wie Alexej Nawalny zu. Würde er nicht mehr da sein, das hatte er mal in einem Interview gesagt, solle man einfach weitermachen im Kampf. Das Ich, das so prominent wirkt, sieht sich selbst nur als den Teil einer größeren Sache. Bis zuletzt hat er sich über Putins Russland lustig gemacht, hat verhöhnt, was ihn zerstören wollte, hinterließ Bilder und Interviews, die puren antiautoritären Trotz verkörpern.

Jagoda Marinić schreibt in ihrer Kolumne über in die Welt, wie sie ihr gefällt – oder auch nicht gefällt. Sie ist Autorin verschiedener Bücher (zuletzt "Made in Germany. Was ist deutsch in Deutschland?", "Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land") und Host des Podcasts "Freiheit Deluxe". Als Moderatorin der Literatursendung "Das Buch meines Lebens" (Arte), fragt sie bekannte Persönlichkeiten, wie das Lesen ihr Leben verändert hat. Auf Twitter und bei Instagram findet man sie unter @jagodamarinic.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz, kurz nach der Nachricht von seinem Tod, tritt seine Frau Julia Nawalnaja ans Mikrofon und ruft zum Kampf gegen das russische Regime auf. Als ich sie reden sehe, ist da diese Scham in mir, weil ich eben noch über den knarzenden Schreibtischstuhl geschimpft habe, den Stau und ein paar Idiotentrolle auf Twitter. Es gibt Menschen wie Nawalnaja, die wissen, dass wir nicht zufällig in irgendeiner Zeit leben, sondern Teil von ihr sind und Geschichte mitschreiben. Die meisten von uns anderen suchen die Ruhe vor dieser Last, die Nische, von der aus man das Weltgeschehen sicher und herablassend betrachten kann, als gehe es uns nichts an.
Dieses slawische Pathos berührt mich
Julia Nawalnaja sagt wenige Tage später in einem Video dem russischen Regime den Kampf an. So wie sie, im schönsten Russisch, ihre Botschaft in die Welt sendet, gelingt es ihr, eben nicht gegen Russland und das Russische zu sein, sondern gegen Putin und das Autoritäre. Putin habe die Hälfte ihres Herzens getötet, sagt sie, die Hälfte ihrer Seele, aber mit der anderen Hälfte werde sie kämpfen. Ich will keine völkerkundlichen Klischees verbreiten, aber dieses slawische Pathos berührt mich, und ich frage mich: Braucht es nicht doch manchmal diese großen Worte statt diese pseudo-sachlichen Dauer-Fakten-Checks und dieses Pro-Contra-Blabla, um große Taten zu wagen? Kann man ohne dieses Pathos die Konfliktlinien unserer Zeit auch nur im Ansatz verstehen?
Julia Nawalnaja ist so charismatisch wie Nawalny – wächst diese Ausstrahlung mit der Tapferkeit der Menschen, oder ist sie angeboren? Beide werden ihre Schwachpunkte haben, aber in entscheidenden Momenten finden sie das Aufrechte in sich und bezahlen notfalls mit dem Leben. Das ist nah dran am archaischen Heldentum, das als überholt gilt. Braucht es jetzt, angesichts der autoritären Herrscher mehr Heldinnen und Helden, die furchtlos das Antiautoritäre verkörpern und die es mit der Zerstörungswut von Diktatoren aufnehmen?
Nur wenige Tage später sitzt Nawalnaja bei US-Präsident Joe Biden, der ihr zu ihrem außergewöhnlichen Mut gratuliert. Sie wirkt nicht so verschmitzt und ironisch wie Alexej, aber der hielt die Option des Todes vielleicht letztlich doch für eine Fiktion. Sie hingegen weiß jetzt: Der Tod ist real. Die meisten von uns haben hingegen noch nicht verstanden, wie wirklich die Bedrohung ist. Der Mut, den sie als Witwe vorlebt, fordert uns alle ein... Och, nein, mein Schreibtischsessel nervt schon wieder, muss mich gleich mal bei einer Freundin beschweren.