Ralph Knispel Oberstaatsanwalt: "Leute, die richtig gefährlich sind, werden nicht aus dem Verkehr gezogen"

Portrait: Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, Moabit Berlin
Ralph Knispel, 63, ist Oberstaatsanwalt am Kriminalgericht von Berlin-Moabit, dem größten Strafgericht Europas.
© Maximilian Baier / stern
Eigentlich soll Ralph Knispel Verbrecher vor Gericht bringen. Doch das wird immer komplizierter: In Polizei und Justiz erlebt er desaströse Zustände.

Herr Knispel, gucken Sie sonntags gern den "Tatort"?
Nee, seit über 20 Jahren nicht mehr.

Warum nicht?
Da rennen die Kommissare direkt hinter dem SEK in die Wohnung eines Verdächtigen, dazu ohne Schutzanzug, sodass sie alle Spuren verunreinigen. Staatsanwälte sitzen in Designer-Büros herum, die DNA-Analyse liegt am nächsten Morgen auf dem Schreibtisch. Für die Genehmigung einer Telefonüberwachung genügt ein kurzer Anruf. Als Profi fühlt man sich da auf den Arm genommen. Das hat mit der Lebenswirklichkeit überhaupt nichts zu tun.

Wie sieht die Lebenswirklichkeit aus?
Polizei und Justiz sind in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht in der Lage, der wachsenden Kriminalität Herr zu werden. Ich habe mir die Entwicklung für Berlin herausgesucht, von 2022 auf 2023. Rohheitsdelikte wie zum Beispiel Körperverletzungen: plus zwölf Prozent. Gewalttaten im häuslichen Bereich: knapp zehn Prozent mehr, in Flüchtlingsunterkünften sogar fast 50 Prozent. Wohnungseinbrüche: 36 Prozent plus. Jugendgruppengewalt: nach 25 Prozent plus im Vorjahr nun nochmals 13 Prozent. 2023 gab es in Berlin allein im öffentlichen Nahverkehr rund 300 Sexualdelikte. Dazu neue Phänomene wie Hasskriminalität im Netz. Die Politik lobt sich: Toll, das haben wir jetzt unter Strafe gestellt. Aber wer führt die Ermittlungen, wer schreibt die Anklage?

Im Zweifel: Sie und Ihre Kollegen.
Wenn es überhaupt dazu kommt. Facebook und Co. sitzen in Irland oder China. Haben Sie schon mal ein Rechtshilfeersuchen an chinesische Behörden gestellt? Ob Sie das Ergebnis noch innerhalb Ihrer Dienstzeit erleben, ist äußerst fraglich. Das alles bindet Zeit und Personal. Die Berliner Generalstaatsanwältin hat gesagt, dass es hier 425 Planstellen für die Staatsanwaltschaft gibt. Aber davon sind nur 378 besetzt und 345 tatsächlich im Einsatz. Wir schieben circa 35 000 offene Verfahren vor uns her. Wir sollen einen Wasserfall stoppen – aber dafür drückt man uns ein Glas in die Hand.

Fühlen Sie sich von der Politik im Stich gelassen?
In weiten Teilen, ja. Ich sage nicht, dass die Politik nichts tut. Es gibt einen Stellenaufbau. Aber der wird bei Weitem nicht ausreichen. Wir stehen vor einer Pensionierungswelle. Bis 2030 werden deutschlandweit über 11.000 Richter und Staatsanwälte ausscheiden, fast die Hälfte. Ich frage mich, wie diese Lücken gefüllt werden sollen. Ernsthafte Ansätze sehe ich nicht.

Vor drei Jahren haben Sie mit Ihrem Buch "Rechtsstaat am Ende" das erste Mal Alarm geschlagen. Sie diagnostizieren darin "Auflösungserscheinungen im innersten Kern des Systems". Wo spüren Sie die?

Erschienen in stern 12/2024