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Ein Ossi im Westen

Es liegt noch Winter-Grau auf Mönchengladbach, das lange Nichts vor dem Frühling. Mein Plan: keinen Plan zu haben; der Zufall soll entscheiden, welche Orte und Personen in diesem Text auftauchen. Mein erster Eindruck: Leerstand. Den Bahnhofsvorplatz dominiert ein mehrstöckiger Gebäudeklotz, Graffiti, tote Fenster. "Zu vermieten" prangt in großen Lettern auf dem Dach, dazu eine Telefonnummer. Ruft man sie an, ertönt: "Kein Anschluss unter dieser Nummer." Am Hauptbahnhof beginnt die Fußgängerzone der Hindenburgstraße mit Ein-Euro-Shops und Dönerläden. Früher gab es hier viele Fachgeschäfte und Boutiquen, die meisten sind verschwunden. Heute findet sich hier das "Minto", ein Einkaufszentrum mit geschwungener Außenfassade. Im Erdgeschoss ruckelt eine alte Dame mit ihrem Rollator vorbei an einem Shop für E-Zigaretten, vorbei an einem Salon, der mit "Botox to Go" wirbt. Hat die neue Welt die alte verschluckt? Die Gladbacher sehen das nicht so. Sie schätzen ihr "Minto", weil es Kauffreudige aus dem Umland anzieht.
Je weiter es die Hindenburgstraße hinaufgeht, desto stumpfer wird der Glanz. Ein Amazon-Lieferfahrzeug spiegelt sich in den Glasfassaden leerer Geschäfte. Der geschwungene Pfeil auf dem Wagen deutet nach oben: das freche Grinsen des Onlinehandels. Die Schaufenster brüllen "SALE SALE SALE". Geld zum Ausgeben haben viele Gladbacher nicht; die Altersarmut ist hoch, die Arbeitslosenquote liegt mit 10,4 Prozent weit über dem Bundesdurchschnitt von 6,1 Prozent.

Früher war Mönchengladbach ein bekannter Textilstandort Deutschlands, doch die Fabriken wanderten ab, nach Bangladesch, China. Mit der Abwanderung starben auch andere Industrien. An diesem Strukturwandel knabbert die Stadt bis heute. Ein bisschen Aufbruch: Das Modeunternehmen C & A produziert seit 2021 wieder Jeans in einem Gewerbegebiet in Mönchengladbach. Angeblich nachhaltig, im Handel für weniger als 60 Euro das Stück.
Nach einem steilen Anstieg endet die Fußgängerzone. Der schöne Teil beginnt: die Altstadt. Im Café "Einstein" erzählt Ulli Wulf, pensionierter Lehrer, was ihm an seiner Heimatstadt auffällt. Er ärgert sich über "Abgehängte", die auf dem Bahnhofsvorplatz herumlungern, Fahrradleichen, die dort seit Jahren vor sich hin rosten. Auf seinem Handy zeigt er ein Obdachlosenlager vor einem alten Hotel, schüttelt den Kopf. Mehrmals pro Jahr arbeitet er als Fahrgastzähler, fährt stundenlang im Bus mit, scannt Tickets.
Oft ist er mit Armut konfrontiert. "Bus fährt hier nur, wer es muss", sagt er. Dass viele Leute keinen Fahrschein haben, Wulf übel beschimpfen, ist Alltag. Der 72-Jährige kritisiert, dass viele Menschen "schlecht integriert" seien. AfD-Wähler machen ihn dennoch wütend. Seine nüchterne Bilanz zur Lage: "Die AfD ist der Steigbügelhalter der schlechten Laune."