Duisburg, Fußgängerzone, vormittags. Ein grauer Himmel hängt über der Stadt, auf dem Weihnachtsmarkt schieben sich erste Besucher Bratwürste in die Backen. Zugegeben: Wer sich hier einen Strand auf Mallorca einbilden kann, braucht Fantasie. Viel Fantasie. Aber genau das ist gerade gefragt. "Hier spricht der Bierkapitän! Darf ich bitte mal die Bierbäuche sehen? Wohin es geht, ist scheißegal - Bier ist international!", singt es aus einer leerstehenden Ladenfläche ein paar Meter weiter.
Was klingt wie der Auftakt zu einer Partyreise von kulturell eher überschaubarer Bedeutung, ist in Wahrheit eine Probe für die große Theaterbühne. Und zwar eine ziemlich ungewöhnliche: Das Ensemble des Musicals "Malle Olé – Das Musical, das ballert!" arbeitet gerade mitten in der Duisburger Innenstadt an Choreographien, Dialogen und Gesang für seine Premiere am 8. Januar.
Weil die eigentliche Spielstätte – das schmucke Duisburger Theater am Marientor – derzeit noch belegt ist, mussten Ersatzräume her. Die durchaus kreative Lösung: ein Umzug in ein aktuell in weiten Teilen leerstehendes Einkaufszentrum, die Duisburger "Königsgalerie". Einst war sie eine Shopping-Meile, demnächst, so der Plan, soll sie ein Gesundheitszentrum werden. Zwischendrin dient sie jetzt als eine Art imaginäres Mallorca.
Probe zwischen Rolltreppe und Bauleuchte
Dass das nicht nur die Fantasie, sondern auch die Pragmatik der Beteiligten fordert, wird schnell deutlich. Am Anfang sei die Heizung aus gewesen und auch Licht habe es nicht gegeben, sagt Executive Producer Sven-Oliver Müller. Die Heizung laufe nun aber wieder und für das Licht habe man Bau-Leuchten besorgt. Der Probenraum sei früher eine Filiale von H&M gewesen, weiß er zu berichten. Durch die ehemalige Damenabteilung marschieren nun allerdings Bierkapitäne.
Wer die Proben besucht, bekommt zugleich einen Eindruck davon, womit die deutsche Musical-Szene im Januar bereichert wird. Bekannte Songs vom berüchtigten Ballermann – etwa "Mama Laudaaa" (Almklausi) oder "Layla" (DJ Robin und Schürze) – sind fest in das Stück eingebaut. Nicht als lose Nummernrevue, sondern als Teil einer geradezu dramatischen Geschichte. Ein böser Millionär will den fidelen Trink-Touristen auf Deutschlands liebster Urlaubsinsel den Party-Stecker ziehen, um vergleichsweise gediegene Wellnesshotels zu errichten. Verquickt ist das mit einer Liebesgeschichte.
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Die Autoren, die Comedy-Erfahrung mitbringen ("Feuer, Eis & Dosenbier"), haben sichtbar Freude an ihren Pointen, die mit dem Mallorca-Sujet spielen. In einer Szene etwa testet ein junger Mann Anmachsprüche an einer Gruppe junger Frauen auf einem Junggesellinnenabschied aus. "Bist du vielleicht Dünger? Weil jedes Mal, wenn ich dich sehe, wächst meine Gurke." Einer ist schlimmer als der andere – als Zuschauer lacht und leidet man zugleich.
Warum Peter Peter heißen muss
Müller, der auch maßgeblich am Buch mitgeschrieben hat, hat eine diebische Freude an der vermeintlichen Diskrepanz zwischen dem "Malle"-Klischee und dem feinen deutschen Theaterwesen. Als sich eine Darstellerin direkt dem Publikum zuwendet, raunt er: "Die berühmte Brecht'sche Wand wird geöffnet." Nur läuft dazu kein Text von Gotthold Ephraim Lessing oder anderen, sondern "Schatzi schenk mir ein Foto" von Mickie Krause.
Es gibt noch mehr beachtenswerte dramaturgische Kniffe. Ein Busfahrer etwa heißt Peter – na klar, denn das passt inhaltlich gut zum Gassenhauer "Das sind nicht 20 Zentimeter, nie im Leben, kleiner Peter". Als der Antagonist, der gemeine Millionär, versucht, Mallorca auf alkoholfreies Bier umzustellen, soll es im Stück musikalisch erst mal in Moll weitergehen – denn das ist im Kosmos dieser Geschichte ein klarer Fall von Tragödie.
Trotz aller Freude am absurden Jux sehen sich die Macher durchaus in einer altehrwürdigen Tradition. Geschäftsführer und Produzent Harald Reitinger kennt sich mit großen Gefühlen aus, er war in seiner Karriere unter anderem schon mitverantwortlich für die Hymne "Forever Number One" des FC Bayern. Er ruft als Referenz das Musical "Mamma Mia!" mit den großen ABBA-Hits auf. "Das sind wir - mit Malle", erklärt er. Autor Sven-Oliver Müller nennt als Vergleich Filme mit Peter Alexander, in denen es auch eine richtige Handlung gab – in die aber schöne Lieder eingebunden wurden.
Aufwand wurde jedenfalls keiner gescheut. Die Bühnenbildnerin wurde nach Mallorca eingeflogen, um sich zum Beispiel die sogenannte Schinkenstraße anzuschauen. Sie sollte sich besser in die Szenerie eindenken können. Zudem wurden acht Lieder ganz neu für das Stück geschrieben.
Eine Auszeit vom grauen Alltag
Ziel ist es, eine Art Traum-Variation des Ballermanns zu inszenieren – eher ein Gefühl. "Viele da draußen denken, dass es um saufen, kotzen und lallen geht", erklärt Mit-Autor Müller. "Aber nein: Es geht um Gemeinschaft."
Ähnlich beschreibt es Regisseur Erik Petersen. "Theater ist ja immer eine fantastische Welt. Und diese fantastische Welt, die zeigen wir natürlich auch", sagt er. "Realität haben wir genug draußen und das Publikum will ja auch im Theater nicht immer mit der Realität so viel zu tun haben."
Mit dieser Haltung lässt sich Mallorca herbeifantasieren – sogar mitten in der Duisburger Innenstadt, zwischen einstigen Umkleidekabinen und Bau-Leuchten.