Das Dschungelcamp habe ich stets vermieden.
Ex-Musikerinnen, Ex-Sportler, Ex-Schauspieler – wenn ich einen Ex sehen will, reicht mir eigentlich schon ein Blick in mein Telefon, das die Trennung immer noch nicht wahrhaben will, und mir penetrant unsere "schönsten Momente" als kleine Filmchen zusammenschneidet.
Ex an Weihnachten, Ex auf Reisen, Ex nach Sex. In der Hoffnung, meinen Ex zumindest nicht im Dschungelcamp auf dem Bildschirm zu sehen, schalte ich zu, gerade, als ein Ex-No-Angel und ein Ex-Fußballstar in einer Grube, einer Art offenem Grab, nebeneinander liegen.
Das Grab füllt sich zusehends mit allerlei Ungetier, Insekten, Ratten, Reptilien, die praktischerweise die Insekten futtern, während die beiden Kandidaten im Liegen nach Schlüsseln schnappen, um damit Sterne zu gewinnen, denn das ist TV-Unterhaltung, wie sie Deutschland verdient.
Bei all der Quälerei darf man nicht vergessen, dass die beiden und alle anderen zumindest freiwillig – oder so ähnlich – dort sind.
Der Mensch scheint die Prüfung zu brauchen, um sich seiner sicher zu sein.
Das fängt häufig schon in der Kindheit an.

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Als Achtjährige führte ich eine Bande an, die ich "die wilde Fünf" nannte, ein völlig schamloses Plagiat der "Wilden 13" von Jim Knopf. Wer dabei sein wollte, musste, selbstverständlich, eine Aufnahmeprüfung ablegen. Fabi etwa banden wir die Augen zu und sagten ihm, dass er Regenwürmer essen müsse. Gegeben haben wir ihm dann kalte Spaghetti, weil er ziemlich gut aussah und ich ihn in der Gruppe haben wollte. Anders bei Jonathan, dessen einziges Verbrechen darin bestand, am gleichen Tag wie ich Geburtstag zu haben. Wir verbanden ihm die Augen, sagten ihm, er müsse einen Regenwurm essen, und gaben ihm einen Regenwurm.

Das Leben testet uns, von der Wiege bis zur Bahre. Schon für den Kindergarten gibt es eine Art Eignungstest (den mein Bruder beinahe nicht bestanden hätte, weil er nicht auf der Stelle hüpfen konnte. Er stand dort einfach mit verkniffenem Gesichtsausdruck auf der Stelle). Der Mensch scheint sich seiner selbst unsicher zu sein, und wer ist man schon, wenn man nicht die mittlere Reife bestanden hat, die Ehrenurkunde, das Seepferdchen, die Verteidigung der Dissertation?
Wir kommen ziemlich nackt zur Welt. Danach geht es dann schnell um Fünfen in Deutsch und Skikurs-Medaillen. Der Druck wächst mit dem Lebensalter, und wenn man es nicht schnell genug zu mindestens einer Oscar-Nominierung oder als "Fußballer des Jahres" schafft, landet man unter Umständen schon vor seinem Ableben dort, wo sich aktuell Ex-No-Angel Star Lucy Diakovska und Ex-Fußballstar David Odonkor befinden: In einem Erdloch, in dem sich Insekten über einen hermachen.
Dort liegen sie, im Dreck, angekommen am Ende ihrer Karriere oder auch Nicht-Karriere. Es scheint einfach, sich in diesem Text über die Teilnehmer lustig zu machen. Zu einfach. Dabei sollte man ihnen zumindest Respekt – oder so etwas Ähnliches – zollen.
Nicht unbedingt ein schöner Moment, wenn Monate zuvor die Einladung ins Haus oder in das Postfach des Agenten geflattert ist.
Ein vernichtendes Zeugnis.
Als potenzieller Teilnehmer gesehen zu werden, das heißt schließlich nichts anderes, als dass eine Redaktion Sneaker-sammelnder Menschen zusammen gebrainstormt hat und zu einem gemeinsamen Urteil gekommen ist: Ja, diese Person scheint so weit unten angekommen, so pleite oder schlicht so verzweifelt genug, die isst sicher auch lebendige Spinnen vor der Kamera.
Eine Einladung bedeutet nichts anderes als: Man war mal wer – oder kurz davor, jemand zu sein. Das Fast-Topmodel, der Ex-Bachelor, der gnadenlose Richter.
Die meisten lehnen eine Einladung sicherlich ab, und dementsprechend werden die Restplätze dann mit den egalen Reality-Sternchen dieser Nation aufgefüllt. Mit den Kim Virginas.
Es gibt Momente im Leben, die absolute Ehrlichkeit verlangen. Im Dschungel zeigt man sich als das, was man ist, und selbst ein Dorian Gray musste irgendwann feststellen, dass er mindestens so viele Schönheits-OPs wie Kandidatin Leyla Lahouar davon entfernt ist, seinem Selbstbild als schöner Mensch zu entsprechen.
Für die meisten von uns finden diese Momente ohne Kamera statt: Wenn der Gerichtsvollzieher den Fernseher einzieht, wenn man uns verlässt, weil wir zu sehr klammern, wenn der Führerscheinprüfer nur noch den Kopf schüttelt.
Schön fühlt sich das nicht an. Denn wer sind wir, wenn nicht die Summe unserer Erfolge und Misserfolge? Das zumindest zimmert uns der Spätkapitalismus von Kindesbeinen schon ein, und hat damit, wie so häufig, natürlich nicht Recht.
Unser Wert erschließt sich nicht aus der Anzahl an Fleißsternchen, die wir im Dschungelcamp verdienen, und nicht an dem Notendurchschnitt unserer Abschlussprüfung, auch wenn es uns so vorkommen mag. Dass wir eigentlich so viel mehr sind und sich unser Wert an ganz anderen Dinge bemisst, ist leicht festzustellen, wenn man für einen Augenblick nur den vernichtenden Blick von uns selbst abwenden und uns mal umschauen im eigenen Bekanntenkreis.
Im Dschungel entstehen Gefühle – und Anya Elsner muss das Camp verlassen

Dass wir Ingo von der Buchhandlung so bescheuert finden, liegt nicht daran, dass er nie eine Ehrenurkunde erhalten hat oder schlechter bezahlt wird als wir, sondern daran, dass er seine Eier-Sandwiches regelmäßig im Kühlschrank vergisst und sich beim Chef über die Raucherpausen der Kollegen beschwert. Und dass wir uns unsterblich in Helga verlieben, liegt nicht daran, dass sie ein Einser-Abitur hat, sondern an der Art und Weise, wie sie ihre Mitmenschen behandelt, wie sie ihr Haar hinter das Ohr streicht, wenn sie nervös ist, wie sie nochmal hundert Meter zurückläuft, weil sie in der Jackentasche doch noch Kleingeld für den Bettler vor dem H&M gefunden hat.
Sich öffentlich an Ekelprüfungen messen zu lassen, das Gefühl zu haben, man müsse es Deutschland irgendwie beweisen, dass man doch noch wer ist, kann nicht schön sein.
Und anstatt uns nur lustig darüber zu machen, wäre es eigentlich schöner, ein ganz kleines bisschen Mitgefühl walten zu lassen. Den Ex-Stars gegenüber, aber vor allem auch – uns selbst.
Denn eines bleibt für jeden sicher: Das nächste Scheitern kommt bestimmt.
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