STERN STUNDE "Ich bin genauso glücklich wie vor dem Angriff": Salman Rushdies wichtigste Aussagen im Live-Interview

Portrait Salman Rushdie lehnt seinen Kopf auf eine Hand und trägt eine Augenklappe
Der Schriftsteller Salman Rushdie, 76, aufgenommen im April 2024 in New York City. Durch die Messerattacke ist sein rechtes Auge erblindet, auch in seine verletzte Hand ist das Gefühl "nicht vollständig zurückgekehrt", wie er sagt
© Ruvén Afanador / stern
Das ganze Gespräch mit Salman Rushdie ist ab sofort auch im Video mit deutschen Untertiteln verfügbar.
"Mitternachtskinder" machte ihn weltberühmt, "Die satanischen Verse" veränderte sein Leben auf dramatische Weise: Schriftsteller Salman Rushdie sprach mit stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz in der STERN STUNDE über die Auswirkungen der Fatwa, den lebensgefährlichen Messerangriff und über die Macht der Worte.

"Worte sind die einzigen Sieger", schreibt Sir Salman Rushdie in seinem Roman "Victory City" – und der Schriftseller präsentierte sich bei der dritten Ausgabe der STERN STUNDE als der lebende Beweis seiner These. Im August 2022 erblindete der indisch-britische Autor durch einen Messerangriff auf dem rechten Auge; bereits seit mehr als drei Jahrzehnten bedroht die Fatwa, das Todesurteil des Obersten Führer des Iran, sein Leben – und doch beeindruckte der 76-Jährige die Zuschauerinnen und Zuschauer in den Hamburger "Design Offices" mit viel Witz und feiner Ironie.

Die Messerattacke von New York verarbeitete Rushdie jüngst in seinem autobiografischen Werk "Knife. Gedanken nach einem Mordversuch". Über den Prozess des Auseinandersetzens mit dem Attentäter, über mögliche Rachegefühle und die Folgen des Angriffs sprach der Schriftsteller am Montagabend rund eine Stunde mit stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz. Lesen Sie hier die wichtigsten Aussagen:

Das sagte Salman Rushdie über ...

  • ... seinen Optimismus: "Ich kann nun mal nichts für mein Naturell. Wenn man sich von so einem Angriff erholt, stimmt es auf eine Art und Weise positiv, weil man das Gefühl hat, ein zweites Leben zu haben. Jeder Tag fühlt sich wie ein Segen an. Ich wache morgens auf und denke: Ich bin immer noch hier. Das fühlt sich gut an." 
  • ... die Dauer des Messerangriffs: "27 Sekunden sind weniger als eine halbe Minute, nicht sehr lang. Aber 27 Sekunden sind eine lange Zeit, wenn jemand mit dem Messer auf Sie losgeht. Ich habe 15 verschiedene Verletzungen erlitten, Stichwunden, Schnittwunden. Ich weiß jetzt sehr viel mehr über Messerangriffe als ich jemals wissen wollte. Menschen aus dem Publikum retteten mich, zerrten den Täter weg. Ohne sie würde ich hier nicht sitzen." 
  • ... den Angriff im August 2022: "Es fühlte sich anachronistisch, aus der Zeit gefallen, an. Das Thema, von dem ich glaubte, dass es langsam abgeschlossen war, tat sich wieder auf. Es fühlte sich an, als sei der Attentäter mit einer Zeitmaschine aus der Vergangenheit gekommen, um mich anzugreifen." 
  • ... Schuldgefühle: "Ich fühlte mich nach dem Vorfall wie ein Weichei. Warum ließ ich den Täter einfach machen? Die Antwort ist natürlich, dass der Angriff sehr, sehr schnell kam. Und als er mich angegriffen hatte, war ich nicht mehr in der Lage, Widerstand zu leisten. Er hat mich direkt unter meinem Kiefer getroffen. Das Blut habe ich erst später gesehen. Dann fiel ich hin und es wurde unmöglich, mich zu wehren. Das war das letzte Mal, dass ich etwas mit meinem rechten Auge sah." 
  • ... die Beziehung zum Täter: "Es klingt seltsam, aber in gewisser Weise ist es eine sehr intime Beziehung, die man zu einem Messerangreifer hat. Die Situation ist sehr nah, körperlich sehr nah." 
  • ... die Zeit im Krankenhaus: "Einer der Chirurgen, die mir das Leben gerettet haben, sagte zu mir: 'Sie können sich glücklich schätzen, dass der Mann, der Sie mit einem Messer angegriffen hat, nicht wusste, wie man einen Mann mit einem Messer tötet.'" 
  • ... den Entschluss, "Knife. Gedanken nach einem Mordversuch" zu schreiben: "Ich konnte lange Zeit nicht wirklich daran denken, etwas zu schreiben, wahrscheinlich für sechs Monate. Andererseits: Schreiben ist nun einmal das, was ich tue. Ich habe keine anderen Fähigkeiten. Man hätte mich nicht singen hören wollen ... Am Ende ist es eine Liebesgeschichte geworden, mit ein bisschen Gewalt in der Mitte. So wie viele Liebesgeschichten." 
  • ... den Prozess des Schreibens: "Schreiben ist wie sich in der Öffentlichkeit zu entkleiden. Ich wollte auch zeigen, dass die Phase nach dem Angriff nicht einfach war. Es war nicht so, dass ich plötzlich aufgestanden bin und gesagt habe: Okay, mir geht es gut, Leute. Es war tatsächlich knapp, es dauerte Monate, es gab Rückschläge und Komplikationen – was nun mal passiert, wenn jemand 15 Mal auf dich einsticht. Es war nicht leicht. Und ich möchte, dass die Menschen wissen, was das für eine Tortur war." 
  • ... Rachegefühle: "Anfangs habe ich vor allem eines nicht gefühlt: Wut. Weder auf den Attentäter noch auf das Universum, obwohl das legitim gewesen wäre. Vermutlich gab es bei all der Anstrengung des Überlebens und Genesens keinen Platz für Wut. Als es mit besser ging, war es zu spät für Wut. Es hat mich überrascht, dass dies eine Emotion ist, die nicht fühlte. (...) Meine Art der Rache ist womöglich, den Täter zu einem der Charaktere in meinem Buch zu machen. Ich besitze ihn dann quasi so, wie er mich besitzen wollte." 
  • ... seinen Körper: "Wenn man Sportler ist, hat man eine sehr intime Beziehung zu seinem Körper. Wenn man Romanautor ist, ist das anders. Man sitzt und tippt und die einzigen Teile deines Körpers, an denen du interessiert bist, sind deine Finger. Seit dem Angriff fühle ich mich mit meinem Körper viel mehr verbunden, als ich es jemals im Leben getan habe. Ich denke, das ist eine gute Sache." 
  • ... sein Selbstbild: "Ich habe gelernt, dass ich vielleicht stärker bin als ich dachte. Ich habe mich nie für einen harten Kerl gehalten, ganz im Gegenteil. Manchmal weiß man nicht, wie belastbar man ist, bis man es sein muss, Ich habe entdeckt, dass ich die Fähigkeit habe, widerstandsfähig zu sein." 
  • ... die Erblindung auf dem rechten Auge: "Das ist das Schlimmste. Und ich habe mich noch nicht daran gewöhnt. Ein Schriftsteller beobachtet auch immer die Welt. Und nun habe ich nur noch ein Auge, mit dem ich beobachten kann. Das ist nicht schön. Ich habe mich immer noch nicht damit abgefunden. Es verlangsamt auch beim Schreiben alles, es macht das Lesen schwieriger. Inzwischen bin ich ins digitale Zeitalter eingetreten, weil ein iPad beleuchtet ist und ich die Größe der Schrift ändern kann." 
  • ... das Leben in ständiger Bedrohung: "Nach der Fatwa stand ich in Kontakt mit dem britischen Geheimdienst. Sie haben mich gebrieft, aber auf sehr minimale Weise. Ihr ganzes Prinzip besteht darin, dir nur das zu sagen, was du unbedingt wissen muss. Aber ich erfuhr von einigen Leuten, die ins Land eingereist waren, die Todesdrohungen gegen mich wahrzumachen. Das war ziemlich alarmierend. Nach 100 Tagen sagten sie mir, dass sie die Bedrohung vereitelt hätten. (...) Als ich vor etwa 25 Jahren nach New York gezogen bin, wurde mir klar, dass sich andere Leute Sorgen um ihre eigene Sicherheit machten, wenn ich in ihrer Nähe war. Und ich dachte, der einzige Weg, wie ich das beheben kann, ist, mich so zu verhalten, als gäbe es keinen Grund zur Sorge. Also habe ich das eine Weile gemacht und allmählich haben sich die Leute an die Tatsache gewöhnt, dass ich da war und die Welt um mich herum nicht zu explodieren schien, wenn ich in der Nähe war. Und alle entspannten sich. Aber um das zu tun, musste ich mich sichtbar machen. Das war meine Strategie." 
  • ... religiösen Fanatismus: "Er hat ein erstaunliches Comeback erlebt. Als ich jung war, war Religion nicht mal ein Thema, man hat nicht darüber nachgedacht. Wir sprachen über Vietnam und Bürgerrechte und Feminismus, über Sex, Drugs and Rock'n'Roll. Die Vorstellung, dass Religion wieder derart in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit rücken und unsere Welt gestalten würde, war undenkbar." 
  • ... über die Wahrheit: "Wir leben in einer Zeit widersprüchlicher Erzählungen. Es gibt Leute, die Lügen erfinden, die geglaubt werden – die Wahrheit muss mit aller Kraft dagegen kämpfen. Beispiel Ukraine: Ich denke, es gibt viele Leute in Russland, die Putin glauben, dass er gegen Nazis kämpfe. Auch der Brexit war eine Art schreckliches romantisches Narrativ von der Idee Englands, dass eine Art goldenes Zeitalter zurückkehren würde, wenn nur all diese schrecklichen Ausländer ausgewiesen werden könnten. Und dann wurden die schrecklichen Ausländer ausgewiesen, und plötzlich gab es niemanden, der in den Krankenhäusern arbeitete, und niemanden, der die Ernten einbrachte. Es ist eine Katastrophe, aber es ist eine Katastrophe, die aus Menschen hervorgegangen ist, die an einen Mythos glaubten. Denn der Grund, warum England früher reich und wohlhabend war, war natürlich, dass es ein Viertel der Welt ausgebeutet hat." 
  • ... Meinungs- und Kunstfreiheit: "Ich bin der Meinung, dass die Kunst des Romans tot ist, wenn man einem sagt, dass man nur über Menschen wie sich selbst schreiben kann. (...) Die Frage ist nur, ob man es gut oder schlecht macht. Die Vorstellung, dass bestimmte Dinge tabu sind, weil sie einfach nicht Teil deiner persönlichen Erfahrung sind, würde jeden Schriftsteller zerstören." 
  • ... Glück: "Ich bin genauso glücklich wie vor dem Angriff, weil ich glücklich war. Ich bin froh, dass ich ein neues Leben bekommen habe." 

Rushdie verriet in der STERN STUNDE, dass er sich noch lange nicht zur Ruhe setzen will. Er habe noch genug Ideen für weitere Bücher, allerdings werde er "keine 22 weiteren" schreiben. Außerdem beginne er langsam mit der Planung für seinen 100. Geburtstag (im Jahr 2047). "Es muss eine Tanzparty sein, auch wenn es eine interessante Art von Tanz sein wird."

"Knife. Gedanken nach einem Mordversuch" ist erschienen bei Penguin (256 Seiten, 25 Euro). Der stern gehört wie die Verlagsgruppe Penguin Random House zum Bertelsmann-Konzern.