Über 35.000 Kommentare, 24.000 Mal geteilt, mehr als zwei Millionen Mal angesehen: Das rund neun Minuten lange Facebook-Live-Video von Courtland Garner ist auf großes Interesse gestoßen. Eingeleitet hatte er es am 3. Oktober mit den Worten: "They out here fucked up!!"
Was war passiert? In Memphis, Tennessee, sind auf dem Bürgersteig vor einem Walgreens-Supermarkt zwei Menschen zusammengebrochen. Ein älteres Ehepaar, wie die Polizei später bekanntgeben wird. Der Mann liegt regungslos rücklings über einem Haltestellensitz und ist bewusstlos, seine Frau, die 59-jährige Carla H., kriecht zunächst noch über den Boden, wobei auch sie immer wieder das Bewusstsein verliert.
Junge Menschen umringen die beiden, machen Fotos, lachen, mutmaßen, ob der Mann nicht vielleicht sogar tot sei – und Garner filmt. Darf man seinem Facebook-Profil Glauben schenken, ist Garner in Memphis aufgewachsen und zur Schule gegangen, lebt aber inzwischen in Los Angeles. Was vielleicht das "out here" in seiner Video-Ankündigung erklären könnte. Er hat 5000 Facebook-Freunde, was wiederum ein Grund für die große Reichweite seines Films sein könnte.
Nur amüsiert oder auch vorsichtig?
Nun könnte man sich fragen: Was ist das nur für eine Jugend? Da liegen zwei hilfsbedürftige Menschen in eher ungesunden Positionen auf der Straße und niemand kommt auf die Idee, daran etwas zu ändern. Stattdessen zücken alle Umstehenden ihre Kameras und halten drauf. Nehmen Details und Gesichter in den Fokus, verbreiten noch in derselben Sekunde live ein Video. Skrupellos.
Doch das ist nur die eine Seite. Denn zuvor haben sie 911 gerufen, den amerikanischen Notruf.
Außerdem sind die jungen Menschen Schwarze. In Memphis, Tennessee. Einer Stadt, die noch immer Elvis feiert, einem Bundesstaat, der für Blues, Rock'n'Roll und Country-Musik steht. Aber auch für knapp 60 Prozent Wähler, die 2012 Mitt Romney, dem Kandidaten der Republikaner, ihre Stimme gaben. Die sich voraussichtlich in diesem Jahr für Donald Trump entscheiden.
Das Ehepaar hatte im Walgreens auf der Toilette Heroin geschnupft. Eine Überdosis. Carla H. kam ins Gefängnis und wird gegen 200 Dollar Kaution wieder freigelassen.
In der Wartezeit
Dass sich die Umstehenden die Zeit, in der sie auf den Rettungswagen warten, mit blöden Kommentaren, unreifem Gelächter und dem Schießen von Fotos vertreiben, wirkt pubertär, naiv und auf den ersten Blick erschreckend abgebrüht. Dementsprechend wird das Video von Garner auch kommentiert, die meisten reagieren entsetzt. Manche jedoch reagieren auch verständnisvoll. "Wer weiß, was ihnen vorgeworfen worden wäre, wenn sie eingegriffen hätten", schreibt eine Userin. Dass sie dabei an die Opfer durch Polizeigewalt denkt, muss sie niemandem erklären. Die Erschießung des Schwarzen Keith Scott durch die Polizei in Charlotte, North Carolina, war erst am 20. September. Ebenso wie die anschließenden Proteste unter dem Motto "Black lives do matter". Der britische "Guardian" führt online Buch über die Opfer von Polizeigewalt.

Wollen Sie nichts mehr vom stern verpassen?
Persönlich, kompetent und unterhaltsam: Chefredakteur Gregor Peter Schmitz sendet Ihnen jeden Mittwoch in einem kostenlosen Newsletter die wichtigsten Inhalte aus der stern-Redaktion und ordnet ein, worüber Deutschland spricht. Hier geht es zur Registrierung.
Es gibt zwei Seiten der Medaille. 821 Menschen sind in diesem Jahr durch Polizeigewalt getötet worden, amerikanische Ureinwohner und Schwarze führen die Liste an. Man kann die jugendlichen Erwachsenen durchaus für ihr Verhalten kritisieren. Aber nicht wegen unterlassener Hilfeleistung.