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Behinderter Tischtennisspieler Hartmut Freund An der Platte wird sein Leben leicht


Er ist geistig schwer behindert, allein völlig hilflos, eigentlich ein Fall fürs Pflegeheim. Doch beim Tischtennis spielt Hartmut Freund seine Gegner schwindelig, ist er ein Star. Ohne seine Familie wäre all das nicht möglich
Von Felix Hutt

Hartmut Freund ist 48 Jahre alt und antwortet auf die Frage "Wie geht es dir?" mit: "Wie geht es Hartmut? Dem Hartmut geht es gut". Er sieht Gesprächspartner mit seinen gütigen braunen Augen an, lächelt, sagt ihre Sätze nach, aber bringt sie nicht in Zusammenhang. Er kann nicht sagen, ob er friert, Durst hat oder krank ist. Einmal litt er wochenlang an einer Blinddarmentzündung, ohne dass es jemand bemerkte. Er kann nicht allein duschen oder auf die Toilette, allein ist er hilflos. Ein Fall fürs Heim. Pflegestufe 2, IQ 46, Schwerpflegebedürftigkeit, schwere geistige Behinderung, alles so verdammt schwer, gäbe es da nicht etwas, das Hartmut Freund aus Bietigheim bei Stuttgart besser kann als Forrest Gump: Tischtennis spielen.

"Hartmut, da hinten ist eine Platte frei", sagt Maximilian, "mach dich schon mal warm." – "Warm machen, Hartmut, warm machen", sagt Freund. Er läuft um die Tischtennisplatte, kreist dabei mit den Armen. Freitagabend, kurz vor 20 Uhr, gleich beginnt das Herrentraining des TTC Bietigheim-Bissingen. Maximilian ist ein Nachwuchsspieler. Er trainiert einmal die Woche mit Freund. Aufschlag. Return. Konterspiel. Wenn Freunds Trikot und Hose durchgeschwitzt sind, seine Bewegungen langsamer werden, muss er ihn stoppen. Freund würde weiterspielen. Maximilian ist nicht behindert. Niemand hier ist behindert. Für die anderen Sportler ist es Freund auch nicht. Er ist ein wichtiges Mitglied der Kreisligamannschaft. Und ein Star des deutschen Behindertensports. "Der Hartmut ist ein Prominenter" , sagen sie. Es geht los. "Uiiijaaa, gut, Hartmut, sehr gut, Hartmut", schreit Freund, ballt die Fäuste und stampft auf den Boden.

Wo Freund spielt, ist er die Attraktion

Sobald er an die Platte tritt, lösen unfassbare Reflexe seine trägen Bewegungen ab, macht das Schwere einer Spielfreude Platz, in der sich alles zu entladen scheint, was Freund sonst verwehrt bleibt. Tausende sehen seine Videos im Internet an, staunen, wie dieser Typ mit Kniebandagen, Stirnband, Halbglatze und Helmut-Kohl-Brille die Schläge der jüngeren Gegner pariert, sie in die Defensive drängt und sich über umkämpfte Ballwechsel freut. Wo Freund spielt, ist er die Attraktion, der tanzende Bär im Wanderzirkus. Zwischen den Punkten hebt er oft seinen Zeigefinger, erteilt sich Anweisungen: "Reißen, Hartmut, reißen", "Grundstellung, Hartmut, Grundstellung." "Gratulieren, Hartmut, gratulieren", sagt er, wenn ein Spiel zu Ende ist. Er erfährt erst nach dem Match, ob er gewonnen oder verloren hat, denn er kann nicht zählen.

Schuld daran ist die Hebamme. Da ist sich Edeltraut Freund, 75, sicher. Hartmuts Mutter ist eine kleine Frau mit kurzen grauen Haaren, die Schwäbisch spricht wie der Rest der Familie. Früher arbeitete sie als Kellnerin, ihr Mann Gregor als Härter in einer Metallfirma. Sie waren Malocher, sind heute Rentner. Stolz auf das Erreichte, auf Haus, Garten, Auto, Erspartes, Söhne. Gäbe es da nicht diesen 29. Januar 1968. An diesem Tag kommen die Zwillingsbrüder Hartmut und Holger zur Welt, frühmorgens. Der Chefarzt ist nicht rechtzeitig im Zimmer. Die Hebamme, die aufpassen sollte, ist eingeschlafen. So erzählt es Edeltraut Freund. Was genau falschgelaufen ist, vermag sie nicht zu sagen. Erste Diagnose: akuter Sauerstoffmangel im Gehirn der Kinder.

Holger Freund kommt mit einer Lernbehinderung davon. Er ist in seiner Intelligenz eingeschränkt, aber nicht geistig behindert. Er kann selbstständig leben, hat sich von der Familie losgesagt, weil er ihr nicht verzeiht, dass sie auch ihn wie einen Behinderten behandelt habe. Hartmut Freund bleibt ein selbstständiges Leben verwehrt. Er ist im Kindergarten noch nicht sauber, kommt auf die Sonderschule, bleibt auf dem intellektuellen Niveau eines Kleinkinds hängen.

Kein Arzt kann den Freunds, zu denen noch der zwei Jahre vor den Zwillingen geborene Sohn Norbert gehört, eine präzise Diagnose stellen. Autistisch muten viele Bewegungen und Eigenarten von Hartmut an, aber ob sie das auch sind, wissen sie bis heute nicht. Sie wissen nur, dass er ihre Hilfe braucht, sie ihn niemals in ein Heim geben würden. Die Freunds machen den Sohn und Bruder zur Lebensaufgabe. Sie leben weniger von ihren Leben, damit er mehr von seinem hat.

"Sein Glück ist unser Glück"

"Sein Glück ist auch unser Glück", sagt Gregor Freund, 79, der Vater. Aber woher wissen sie, was sein Glück ist? "Das kann man natürlich nicht immer sagen", sagt Norbert Freund, 50, der Bruder. Bei einer Sache ist er sich aber sicher: Dem Hartmut gehe es gut, wenn er Tischtennis spielt. Der große Bruder ist Hartmut Freunds Bezugsperson. Norbert Freund sieht mit seinem Schnauzbart aus wie eine Figur aus einem Film der Coen-Brüder. Ein intelligenter Nerd, der Politik und Romanistik studiert hat. Er ist die Brücke zu seinem Bruder. Er übersetzt ihm die Welt und erklärt der Welt, wie er glaubt, dass sein Bruder sie sieht. Nach all den Jahren hält er den Anspruch für berechtigt, dies in den meisten Fällen zu wissen.

Norbert Freund schenkt dem Bruder seine besten Jahre. Vor drei Jahren hat er seinen Job als Politikredakteur bei der "Saarbrücker Zeitung" gekündigt und ist wieder im Elternhaus eingezogen. Er hat ausgerechnet, dass Renten und Ersparnisse reichen müssten, bis zum Ende. Seine größte Sorge ist, dass Hartmut den Tod der Eltern nicht verkraften, er sie sogar alle überleben könnte.

Norbert Freund verzichtet auf eine eigene Familie, schläft im Keller. "Wo ist der Norbert?", fragt Hartmut morgens als Erstes. Hat er ihn gefunden, reibt er seine Wange an der seines Bruders. "Gute Nacht, Norbert", sagt er, bevor er ins Bett geht.

Als er sieben Jahre alt war, nahm ihn sein Bruder mit zum Onkel, bei dem stand eine Tischtennisplatte. Aus Sperrholz schnitzten sie seinen ersten Schläger, weil sie Angst hatten, dass er einen richtigen kaputt machen würde. Neben seiner Behinderung leidet Freund an Epilepsie, hat Diabetes. Gegen die epileptischen Anfälle bekommt er ein Medikament. Die Zuckerkrankheit ist besser geworden, seit er abgenommen hat, weil er so viel Sport treibt.

Niemand rechnete damit, dass ihm Tischtennis Spaß machen könnte. Zu anspruchsvoll ist der Sport, bei dem man blitzschnell auf den Schlag des Gegners reagieren und zugleich einen Plan für den eigenen entwickeln muss. Doch Freund brachte mit seinem Sperrholzschläger einen Ball nach dem anderen zurück. Er versank in das Spiel. "Gut, Hartmut", sagte der Bruder, "gut machst du das." Freund mag wenig verstehen, dafür spürt er viel. Er wurde gelobt. Die Sache mit dem Ball machte ihm Spaß. Er war gut darin. Er wollte jetzt immer spielen.

Die Freunds leben Inklusion, bevor das Wort in Mode kam

Die Freunds zogen in ein neues Haus, im Hobbyraum stand nun ihre eigene Platte. Die Brüder übten zusammen, aus dem Üben wurde Training. Norbert Freund spielte im Verein, nahm seinen Bruder mit, erklärte den anderen, wie mit ihm umzugehen sei. Dass sie sich nicht daran stören sollen, wenn er mit sich selbst redet, sie ihm sagen müssen, wo er im Doppel zu stehen hat. Die Freunds lebten Inklusion, bevor der Begriff in Mode kam. Nicht nur beim Sport.

Sie glaubten, dass Hartmut ein Job guttun würde. Sein Vater nahm ihn mit in die Metallfirma. Die wollte den Behinderten nicht. Gregor Freund drohte zu kündigen, wenn sie ihm keine Chance gäben. Er setzte sich durch. Vater und Sohn fuhren jahrelang zusammen zur Arbeit. Hartmut bediente eine Strahlmaschine, musste nur zwei Knöpfe drücken. Er verdiente Geld, auch wenn es ihm nichts bedeutete. Er merkte sich die Namen der Kollegen.

Freund war beliebt, ein Maskottchen, ständig am Plappern. Doch eine neue Kollegin kam. Drehte ihm den Strom ab, immer wieder, weil sie glaubte, dass er Fehler mache. Irgendwann haute er ihr auf die Hand. Verlor seinen Job. Der Fall ging vor Gericht, Freund bekam eine Abfindung, die nützte ihm nichts. Er wurde depressiv, zog sich in sich zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Verließ ihn nur, wenn er an die Platte durfte. Die Schwermut verging, sobald er den Ball über das Netz spielte.

Der Sport diente als Therapie, bis die Freunds nach Ungarn in den Urlaub fuhren. Ein ungarischer Bekannter sah Freund spielen und war begeistert. Mit richtigem Training könnte man aus ihm einen sehr guten Spieler machen, sagte er. Freund trainierte bald zweimal am Tag.

Da sein Gehirn nicht auf die verschiedenen Schläge der Gegner reagieren kann, muss er die Ballwechsel automatisieren, so lange trainieren, bis sie in seinem Unterbewusstsein verankert sind. Macht sein Gegner einen kurzen Aufschlag, weiß Freund, wie er den parieren soll, weil er es so oft geübt hat. Die Trainer seiner Gegner raten gegen ihn zu Schnittwechseln, zu überraschenden Schlägen, weil er auf die keine Antworten findet. Dass seine Gegner die Anweisungen umsetzen können, zeigt den Freunds, dass seine Gegner weniger behindert sind als ihr Hartmut. Was seine Leistung aufwertet, wie sie betonen. Es gehe nicht fair zu im Behindertensport.

Sein Aufschlag heißt "die scharfe Annette"

Freund versteht nicht, was mit Vorhand, Rückhand und Aufschlag gemeint ist. Der Trainer behilft sich mit Synonymen. Die Vorhand ist Schnitzel, die Rückhand Bienenstich, seine Lieblingsgerichte. "Spiel zum Schnitzel, Hartmut", sagt er. Auch die Aufschläge bekommen Namen. Einer heißt Kakao, weil Freund den nach dem Training trinkt. Den langen schnellen Aufschlag auf die Rückhand des Gegners nennen sie "scharfe Annette", weil Freund gern mit einer Zwölfjährigen spielt. Sie heißt Annett, aber er nennt sie Annette.

Erste Erfolge stellen sich ein. Bei der Europameisterschaft in Split 2011 schlägt Freund Spieler, die in der Rangliste vor ihm stehen. Es gibt nur eine Startklasse für geistig behinderte Sportler. Freunds Gegner sind jünger und meist nur lernbehindert, man sieht ihnen ihre Behinderung nicht an. Ihm schon. Er ist der Underdog, ihn feuern die Zuschauer an. Die Freunds spüren, dass ihr Hartmut Charisma hat, das die Menschen bewegt. Dass seine Begeisterungsfähigkeit mitreißt. Er berührt die, die anfangs beschämt zuschauen, weil sie nicht mit diesem Mann umzugehen wissen. Ohne eine Anleitung dafür zu haben, machen die Freunds aus ihm einen Profi.

Norbert Freund findet Sponsoren, die seinen Bruder unterstützen. Ein Autohaus in Bietigheim stellt einen Wagen zur Verfügung. Die Stadtwerke geben Geld, das Reha-Zentrum betreut ihn. Norbert Freund wird zum Manager, sein Bruder sein Projekt. Er arbeitet pedantisch, sitzt nachts vor dem Computer, analysiert Gegner, bucht Reisen, legt sich mit dem Behindertenverband an. Er macht all das, weil er meint, dass es Hartmut dabei gut geht.

Dem geht es gut, wenn er Gewohnheiten pflegen kann. Er mag keine Veränderungen. Jeden Morgen nach dem Aufstehen stellt er den Steck-Kalender, der bei seinem Bett hängt. Er frühstückt ein Brot mit Butter und Marmelade. Im Radio hört er immer Antenne 1, er mag Pop- und Volksmusik. Freund schwimmt gern, aber nur im Freibad Aspach. In Supermärkten geht er zum selben Eingang hinein und wieder hinaus. Mittags essen die Freunds oft beim Chinesen. Da gibt es ein Büfett zum guten Preis. Freund geht stets auf der linken Seite am Aquarium vorbei.

Freund spielt in Italien, Thailand, Ecuador

Die Unfähigkeit, mit Ungewohntem umzugehen, sei ein typisches Kennzeichen von Autismus, sagt Norbert Freund. Aber wieso setzt er ihn dann genau dem aus? Reist mit ihm zu Turnieren nach Ecuador oder Thailand? Lässt ihn vor Menschen spielen, die seine Marotten nicht einordnen können, ihn unfair schimpfen? Tun die Freunds ihrem Hartmut mit dem Leistungssport einen Gefallen, oder dressieren sie unbeabsichtigt den Bären, weil von seinem Glanz etwas auf sie zurückfällt?

"Dem Hartmut machen die Wettkämpfe Spaß. Und wenn mein Vater und ich dabei auch zu Reisen kommen, die wir sonst nie machen würden, warum denn nicht?", sagt Norbert Freund.

Auf einer Reise zu einem Turnier in Ecuador sehen die drei Freunds den Vulkan Cotopaxi. Hartmut Freund sitzt am Fenster des Busses und staunt. Sie essen in Ecuador jeden Abend Kartoffelsuppe. Sie fahren nach Malmö über die Øresundbrücke. Er kann gar nicht glauben, wie lang sie ist. Von Malmö fliegen sie nach Italien. Hartmut Freund sitzt im Flugzeug immer zwischen Bruder und Vater. Beim Start hat er Angst. Er schließt die Augen und reicht den beiden seine Hand. "Kannst die Augen aufmachen, Hartmut", sagen sie, wenn sie die Reiseflughöhe erreicht haben.

Als Hartmut Freund wegen einer Schulterverletzung nicht spielen konnte, setzte sein Bruder ihn auf einen Hometrainer, damit er an seiner Ausdauer arbeitet. Urlaub machen sie nur in Hotels, die über Tischtennisplatten verfügen, Hartmut muss auch im Urlaub trainieren. Norbert Freund postet auf Facebook Bilder und Videos seines Bruders. Dessen Erfolge wären ohne ihn nicht möglich, sie gehören auch ihm. Während der Matches steht er an der Bande und coacht. "Sehr stark, Hartmut", ruft er, oder: "Jetzt spielst die scharfe Annette!" – "Scharfe Annette, scharfe Annette", sagt Hartmut Freund dann und schlägt lang in die Rückhand des Gegners auf.

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