Von Lutz Kinkel
Manchmal sitzen wir einfach nur da. Frau Schmidt (Name geändert) schaut an die Decke. Ich schaue aus dem Fenster. Zeit vergeht. Nichts passiert. Alles ist ruhig. Und alles ist gut.
Zeit. Einfach nur da sein. Das Gefühl genießen, dass der Raum beheizt ist, der Stuhl bequem, der Magen wohlig. Im Job geht das nicht. Ich bin Journalist und starre im Büro auf einen Bildschirm. Im Sekundentakt schicken die Agenturen Nachrichten: Anschläge in Bagdad, Überschwemmungen, Entführungen, politische Gespräche. Wir verarbeiten das Material zum Teil in Minuten, recherchieren nach und telefonieren. Am Abend hämmern die Schlagzeilen des gesamten Globus in meinem Hirn. Und sie entweichen wieder, wenn ich Frau Schmidt besuche.
Es war 1993, als ich in das Haus in der Blücherstrasse 8 zog - ein Backsteinbau, hastig in den 50er Jahren hochgezogen, mit simplen aber bezahlbaren Zweizimmerwohnungen. Ich war Student und wollte dort einfach nur in Ruhe meine Magisterarbeit schreiben. Vorher aber musste die Wohnung renoviert werden. Also kratzte ich mit Freunden bis morgens um vier Uhr die Tapete von den Wänden. Und dann gingen wir noch mal los, um an der Tanke ein paar Bier zu kaufen. Im Parterre knarrte die Tür, als wir vorbeikamen. Im Türrahmen stand Frau Schmidt im Morgenrock. "SO GEHT DAS ABER NICHT, HERR KINKEL!!! SIE KÖNNEN HIER NICHT NACHTS EINEN SOLCHEN KRACH MACHEN. DIE LEUTE WOLLEN SCHLAFEN!!!"
Dieser Text
... wurde zuerst in dem Sammelband "Ein Blick zurück und auch nach vorn" (Hamburger Betreungsvereine, Selbstverlag 2006) publiziert. Das Buch kostet fünf Euro und ist über das Diakonische Werk Hamburg-West zu beziehen. Die Hamburger Betreungsvereine suchen laufend Interessierte, die eine ehrenamtliche Betreuung übernehmen möchten.
Die "Concierge" passt auf
Von dieser Sekunde an war mir klar, dass das Haus eine Art "Concierge" hat, der nichts entgehen würde. Ich hatte die Hausordnung verletzt und dafür eine amtliche Standpauke gefangen. Das sollte nicht zum Dauerzustand werden. Also ging ich tags darauf zu ihr und entschuldigte mich. Sie hielt mir die Standpauke noch mal in Kleinbuchstaben, akzeptierte aber. Was für ein Start in die Hausgemeinschaft!
In den folgenden Jahren - ich hatte den Magister längst in der Tasche, arbeitete in der Onlinebranche, blieb aber aus Bequemlichkeit in Blücherstrasse wohnen - wurde mir Frau Schmidt vertrauter. Sie war einfach immer da. Entweder stand sie auf dem Balkon und hielt Ausschau oder sie stand im Türrahmen und hielt Ausschau. Ich blieb stehen, sprach mit ihr und registrierte schmunzelnd ihre Fragen nach der "jungen Frau", die doch gestern Abend bei mir gewesen sei. Oft fielen ihre mahnenden Worte "So geht das aber nicht." Aber sie galten nicht (mehr) mir. Sondern der Nachbarin, die eigenmächtig Blumen im Vorgarten gepflanzt hatte. Oder den Fahrern des Pizzaservice auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die ihre Autoradios bis Anschlag aufdrehten. Mir gefiel, dass sie dezidierte Vorstellungen hatte, was richtig und falsch sei. Und mich beeindruckte ihre Unerschrockenheit, mit der sie die Leute notfalls anpfiff.

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Weiter so, noch 100 Jahre
Frau Schmidt hatte sich ein kleines Netz an Bekannten aufgebaut, mit denen sie ihren Alltag meisterte. Mit der einen Freundin fuhr sie in den Urlaub, von der anderen ließ sie sich zum Friseur und zum Arzt eskortieren. Es gab einen Handwerker, der für sie Renovierungsarbeiten erledigte. Die Wasserkästen brachte ich vom Einkaufen mit. War sie selber im Supermarkt, packte sie stapelweise Wiener Würstchen ein. Die bekam Birdy, der bereits übergewichtige Dackel einer Nachbarin. So hätte es noch 100 Jahre weitergehen können.
Ich half ihr gerne aus, auch weil ich in einer Familie aufgewachsen bin, die seit Generationen in der Sozialarbeit tätig ist. Mein Vater leitete in Wiesbaden ein großes Heim für so genannte "Verhaltensgestörte" und diese Aufgabe war mehr als ein Job für ihn. Oft saßen besonders schwierige Kinder an unserem Abendbrottisch, auch an Weihnachten. Hatten sie ihren Schulabschluss, ließ mein Vater seine privaten Kontakte spielen, um sie irgendwo "unterzubringen". Im Heim selbst gab es behinderte Mitarbeiter, einen tauben Schuster zum Beispiel, der, von einem Kriegstrauma gepeinigt, in seiner Dusche Lebensmittel hortete, und einen geistig Zurückgebliebenen, der in der Werkstatt aushalf. Sie wurden ebenso wie alle anderen mit Respekt und Fürsorglichkeit behandelt. Das blieb bei mir haften - eine positive Wertsetzung, die alle krawalligen Auseinandersetzungen mit der Familie während der Pubertät überdauerte. Mir war eben die Aufgabe zugefallen, mich um Frau Schmidt zu kümmern.
Freunde kapitulierten
Es blieb nicht bei den Wasserkästen. Wird ein Mensch alt, krank und hilfebedürftig, sortiert sich das soziale Umfeld noch mal neu. Freunde bleiben weg, weil ihnen die Person unangenehm wird. Andere kapitulieren, weil sie selbst schon alt sind, und das steigende Pensum an Hilfstätigkeiten nicht mehr bewältigen können. Dafür werden die Drückerkolonnen immer penetranter, die sich darauf spezialisiert haben, alten Menschen, die nicht mehr alles unter Kontrolle haben, Zeitschriftenabos aufzuschwätzen. Eine intakte Familie kann einen Rentner in solchen Lebenslagen schützen. Frau Schmidt hatte keine Familie, dafür aber plötzlich fünf Abos mit einer Laufzeit von zwei Jahren. Sie wusste, dass das "so nicht geht". Aber sie wusste nicht, wie sie aus der Nummer wieder rauskommt.
Ich konnte ihr helfen. Ich konnte auch noch das Rote Kreuz bestellen, als allmählich klar wurde, dass sie ihren Haushalt nicht mehr alleine würde führen können. Aber mein Engagement stieß schnell an Grenzen. Wie sollte ich, offiziell ein "wildfremder" Nachbar, Auskünfte von ihren Ärzten einholen? Wie der Telekom klar machen, dass es nicht angeht, einer alten Dame zwanzig Jahre lang Miete für ein Wählscheibentelefon abzuzwacken? Wie mit dem Sozialamt verhandeln, wenn die Rechnungen für das Rote Kreuz ihre finanziellen Möglichkeiten überschritten? Die Fragen wurden immer drängender, und es gab niemanden, der sich darum kümmerte. Schließlich schlug die Leiterin der Rote-Kreuz-Station vor, ich solle mich zum Betreuer bestellen lassen. Ich wusste weder, was das ist, noch was es bedeutet.
Raus aus dem Papier
Aber ich war in der komfortablen Lage, über ein eigenes Journalistenbüro zu verfügen, keine eigenen Kinder versorgen zu müssen und meine Zeit relativ frei einteilen zu können. Außerdem hatte ich Lust auf diese Arbeit. Raus aus dem Papier, rein ins Leben. Nicht nur diskutieren, sondern entscheiden. Ich fühlte mich in einem Teil meiner Persönlichkeit gefordert, der im journalistischen Alltag notwendig unterfordert bleibt. Und ich war davon überzeugt, etwas Sinnvolles zu tun. Ich würde einem Menschen praktisch helfen können, so wie es meine Eltern in unzähligen Fällen auch getan haben. Ein naiver Glaube, wie sich bald herausstellte.
Denn das, was ich unter Hilfe verstand, war nicht zwangsläufig das, was Frau Schmidt hilfreich gefunden hätte. Wer Diabetes hat, muss aus medizinischen Gründen strenge Diät halten und das bedeutet: viel Salat, Fisch, Diätgebäck und Mineralwasser. Frau Schmidt aber stand auf Mettwurstbrötchen, Torte und eine Flasche Bier am Abend. Soll - nein: darf - man die wenigen Lustbarkeiten, die ein alter Mensch hat, einfach einkassieren? "IST MIR VÖLLIG EGAL!!!", sagte sie und biss einfach in die Wurst. In diesem Stil ging es munter weiter. Körperliche Bewegung? Keine Lust. Kaffeetrinken mit anderen Pensionären? Nö. Pflegebett in der eigenen Wohnung? Niemals. Von den Diskussionen um ausländische Pflegekräfte wollen wir hier schweigen.
Gutmensch und Alter
Kurzum: Der Elan des Gutmenschen beißt sich an den Eigenarten des Alters gelegentlich die Zähne aus. Es gilt, immer neue Kompromisse auszuhandeln, immer wieder die Balance zu finden. Zwischen individueller Lebensqualität und medizinischen Notwendigkeiten. Zwischen Weltbildern aus den 50ern und den 80er Jahren. Zwischen der Ruhe des Alleinseins und geistiger Anregung. Zwischen dem Recht auf Heimat und pflegerischen Erfordernissen. Das alles ist mühselig und führt nicht selten zu unbefriedigenden Ergebnissen. Aber genau das ist das Leben. Ein wechselseitiges Lernen.
Ich habe zum Beispiel gelernt, dass Betreuung vor allem bedeutet, verlässliche Strukturen aufzubauen - kompetente Ärzte und Pfleger auszuwählen, die Finanzen zu regeln, für ein soziales Umfeld zu sorgen. Diese Strukturen müssen je nach Gesundheitszustand immer wieder neu justiert und oder völlig umgekrempelt werden. Auch Frau Schmidt lebt inzwischen in einem Heim, genauer: im Stadtdomizil im Schanzenviertel. Ich habe mir eine ganze Reihe von Häusern angesehen und dann für das Stadtdomizil votiert. Es war, auch von heute aus betrachtet, die richtige Entscheidung. Ungleich schwerer und zwiespältiger war es, die Verantwortung für die Wohnungsauflösung der alten Dame zu tragen. Ich hatte zu entscheiden, welche Bücher sie mitnehmen kann, welche Fotos, welches Geschirr, welche Kuscheltiere. Obwohl ich Frau Schmidt nun schon seit zwölf Jahren kenne, fühlte ich mich extrem unwohl. Die Dinge sind Erinnerungen, und wie könnte ich das Set definieren, durch das ihre Gedanken künftig streifen können? Sie konnte mir nicht mehr sagen, was für sie wichtig ist.
Wir siezen uns - wie schön
Frau Schmidt hat dichtes, fast drahtiges, weißes Haar. Ihre Augen leuchten, wenn sie sich freut. Sie spricht nicht viel, wir siezen uns, das ist inzwischen eine schöne altmodische Marotte, die wir pflegen. Sie hat mir oft gesagt, dass sie dankbar ist, dass "Sie soviel für mich getan haben" Und ich bin dankbar, dass ich soviel für sie tun konnte. Ich will die Zeit nicht missen. Es war die vielleicht wichtigste Arbeit, die ich bisher gemacht habe.
Lutz Kinkel betreute Frau Schmidt zwischen den Jahren 2003 und 2005. Aus beruflichen Gründen musste er die Betreuung aufgeben - und ist gleichwohl ein Freund der alten Dame geblieben.