Interview Warum wir Kindern um jeden Preis vorlesen sollten

Vorlesen: Mann mit Mädchen, sie lacht, beim Vorlesen
So ein schöner, inniger Moment: Beim Vorlesen können Papa und Tochter gemeinsam in die Welt der Fantasie abtauchen und zusammen lachen (Symboldbild)
© IMAGO/Olga Rolencino
Heute ist der Tag des Vorlesens. Also, schnappen Sie sich Ihr Kind, machen Sie es sich gemütlich und tauchen Sie gemeinsam ab in die Welt der Fantasie. Es lohnt sich!

Frau Mathern, warum ist Vorlesen so wichtig?
Als Bücherfrau sage ich natürlich: Vorlesen ist elementar, das sollte in jeder Familie und in jedem Alltag verankert sein. Es festigt die Bindung zwischen Vorleser und Zuhörer. Es ist die beste Vorbereitung darauf, die Liebe zu Büchern zu entwickeln. 

Was passiert beim Vorlesen?
Beim Vorlesen entdeckt das Kind – idealerweise noch bevor es selbst lesen lernt – wie toll die Welt der Geschichten ist. Natürlich ist Lesen lernen anstrengend. Das ist wie Schwimmen, da setzen wir auch nicht voraus, dass ein Kind ins Wasser springt und einfach losschwimmt. Sondern wir bringen ihm die Bewegungen bei, nehmen ihm die Angst vor dem Wasser. Ähnlich ist es mit dem Lesen: Wir müssen Lust machen, die ganze Welt, die da zwischen den Buchstaben auf einen wartet, schmackhaft machen. Dafür ist Vorlesen nachweislich einfach die beste Art und Weise.

Jedem dritten Kind wird selten bis nie vorgelesen

Die Lesestudie Iglu zeigt, dass in Deutschland jedes vierte Kind am Ende seiner Grundschulzeit nicht richtig lesen kann. Und auch laut Pisa-Untersuchung kann jeder vierte 15-Jährige nicht ausreichend lesen. Das heißt, diese Mädchen und Jungen können zwar Wörter entziffern, aber keine Zusammenhänge herstellen. Wie kann das sein?
Das ist dramatisch! In 29 Prozent der Familienhaushalte gibt es maximal zehn Kinderbücher. Und jedem dritten Kind wird selten bis nie vorgelesen. Das sind Ergebnisse aus dem Vorlesemonitor der Stiftung Lesen. Wir brauchen bei diesem Thema Interessengemeinschaften, damit wir das gemeinsam verändern können – Schulen, Eltern, aber auch wir Verlagshäuser sind hier gefragt. Deshalb finden wir es als Verlagsgruppe wichtig, uns beim Vorlesetag zu engagieren.

Vorlesen: Porträt Foto
© Kerstin Seipt

Zur Person

Carina Mathern ist bei der Verlagsgruppe Penguin Random House in München verantwortlich für Kinder- und Jugendbücher. Zuvor war sie bei den Verlagen Harper Collins und Oetinger tätig

In welchen Familien wird regelmäßig vorgelesen und bei welchen nicht?
Es sind vor allem Akademiker und Erwachsene, denen als Kind selbst vorgelesen wurde und die das an ihre Kinder weitergeben. Umgekehrt wissen wir auch, dass es bei vielen Erwachsenen eine große Hemmschwelle gibt, vorzulesen. Das finde ich ganz besonders schade! Denn man kann es sich beim Vorlesen richtig gemütlich machen: ein schönes Licht aufstellen, erst noch drei Lieder spielen, eine besondere Atmosphäre schaffen. Das ist aber nicht die Grundvoraussetzung. Und vielleicht muss man das einfach nochmal so direkt sagen: Tut es bitte einfach! Macht es Euch und den Kindern nicht so schwer!

Lesen ist anstrengend. Auch Vorlesen. Es ist viel leichter, meinem Kind das Smartphone in die Hand zu drücken, damit es beschäftigt ist und ruhig. Hat es das Lesen deshalb immer schwerer?
Der Anfang ist schwer, der Einstieg. Aber wenn es gelingt, Kinder zum Lesen zu bringen, dann kann es genauso eine Beschäftigung sein, die beruhigt. Und während das Kind liest, kann ich andere Dinge erledigen. Es braucht nur ein bisschen Begleitung bis dorthin.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Jungs lesen eher weniger als Mädchen. Sie haben selbst drei Söhne. Wie ist das bei Ihren Jungs zu Hause?
Meine Söhne haben keine Wahl (lacht). Im Ernst: Bei uns wird jeden Tag vorgelesen. Das kommt natürlich auch durch meinen Beruf. In der Branche sind sehr viele Frauen. Darüber denke ich viel nach, denn wir kuratieren die Inhalte. Aber wir müssen darauf achten, dass wir auch Bücher zu sogenannten Jungsthemen machen. Wir können insgesamt nicht nur Bücher anbieten, bei denen wir Erwachsenen sagen: "Die finden wir aber toll!"

Also nicht "Bullerbü", weil ich die Geschichten von Astrid Lindgren früher so schön fand? 
Also ich glaube, beides geht. Wenn Kinder von Bezugspersonen vorgelesen bekommen, dann können Sie sicher ganz wunderbar die alten Klassiker vorlesen. Die teilen ja alle gern, die so eine Bücherliebe in sich tragen. Gleichzeitig finde ich es auch völlig legitim, die Bücher vorzulesen, bei denen wir sagen: Das ist jetzt vielleicht literaturästhetisch nicht genau das, was wir Erwachsenen uns vorgestellt hätten, aber es ist ein Lieblingsthema von Kindern. Dann packen wir sie bei ihrem Interesse und überwinden die Lese-Hemmschwelle.

Wie verändern sich die Trends bei den Inhalten für Kinder- und Jugendbücher? 
Zum einen setzen die Verlage Trends bei Kinder- und Jugendbüchern. Außerdem kommen Themen von Influencern oder Serien, die wir aufnehmen. 

Ab wann kann ich anfangen, einem Kind vorzulesen?
Zu früh gibt es eigentlich nicht. Der erste Kontakt kann ab sechs Monaten mit Papp- oder Stoffbilderbüchern starten. Die werden auch schon mal in den Mund genommen, was völlig in Ordnung ist. Diese ersten Bücher sind zum Beispiel gut, um Farben kennenzulernen, und wir wissen, dass wir so die Entwicklung des Wortschatzes fördern. 

Vorlesen fördert die Entwicklung des Wortschatzes

Und wie wichtig ist, dass Eltern selber lesen? 
Es ist wichtig, dass unsere Kinder uns mit einem Buch, einer Zeitschrift erleben. Da haben Erwachsenen ganz klar eine Vorbildfunktion.

Wie lange sollte man vorlesen? 
Wir wissen aus Studien, dass etwa 20 Minuten am Tag wahnsinnig viel bewegen. Das ist auch die Zeit, die Kinder später beim Lesenlernen mit Büchern verbringen sollten, damit sie auch das sinnentnehmende Lesen lernen.

Tag des Vorlesens

Jedes Jahr findet am dritten Freitag im November der "Tag des Vorlesens" statt. In diesem Jahr am 21. November. Ziel ist es, die Bedeutung des Vorlesens für Kinder und Erwachsene herauszustellen und für Geschichten zu begeistern. In diesem Jahr steht der bundesweite Aktionstag unter dem Motto: "Vorlesen spricht deine Sprache".

Sie sind Verlagsleiterin für Kinder und Jugendbücher. Was reizt Sie an diesem Genre?
Kinder sind ein fantastisches Publikum, weil sie so begeisterungsfähig sind. Sie sind gnadenlos ehrlich in ihrem Feedback. Da gibt es keine Höflichkeit, sondern entweder Begeisterung oder Langeweile.

Viele Erwachsene erwarten, dass ein Kind beim Lesen auch etwas lernen sollte. 
Ich finde nicht, dass jedes Kinderbuch irgendeine Botschaft verbreiten muss. Sondern wenn ein Kinderbuch Begeisterung auslöst, weil es witzig ist oder spannend, dann ist es an sich wertvoll. Wir Erwachsenen lesen doch auch oft nur zur Unterhaltung.

Wie wird künstliche Intelligenz das Lesen verändern? 
Wir Verlagsleute vermuten, dass sich das Problem mit den Nichtlesern verschärfen wird, weil die KI Informationen schnell zusammenfassen kann und man vermeintlich nicht selbst lernen muss. Dagegen können wir nur arbeiten, indem wir die bestmöglichen Geschichten erzählen und veröffentlichen. Das kann die KI nämlich nicht.

Muss man in Zukunft überhaupt noch selbst lesen können? 
Ich glaube, die entscheidende Frage ist: Wie mündig wollen wir bleiben? Ich muss mir die Welt selbst erschließen können, um kritisch beurteilen zu können, was ist wahr und was nicht. Je weniger ich das eigenständig überprüfen kann, desto mehr bin ich dem ausgeliefert, was mir vorgesetzt wird. Und schon gar nicht sollten wir die Welt der eigenen Fantasie herschenken. Durch Geschichten lernen wir unterschiedliche Perspektiven kennen, sie eröffnen uns die Möglichkeit, auf die Realität durch eine andere Brille zu sehen. Das fördert die Empathie. Und Empathie ist doch genau das, was wir aktuell so dringend brauchen.

Welche Ansätze der Leseförderung gibt es? 
Schulbibliotheken halte ich für ganz wichtig. Wenn die gut ausgestattet sind, werden sie viel genutzt. Das Angebot schafft die Nachfrage: Wenn kein Buch verfügbar ist, werde ich es auch nicht kennenlernen. Aber viele Schulbibliotheken sind leer gefegt. Wir erhalten jährlich etwa 80.000 Anfragen nach Büchern im Wert von einer Million Euro. Das können Kinder und Jugendbuchverlage nicht alleine stemmen. Deshalb sollte die Politik da dringend unterstützen. Am Welttag des Buches nehmen wir jährlich als Verlagsgruppe an der Aktion teil "Ich schenke dir eine Geschichte". Deutschlandweit verschenken wir gemeinsam mit dem Börsenverein, der Stiftung Lesen, der Deutschen Post und anderen an Viert- und Fünftklässler ein Buch. Damit erreichen wir etwa 1,1 Millionen Kinder. Das ist großartig. Und gleichzeitig ist es auch erschütternd: Denn da sind Kinder dabei, für die ist es das erste Buch, das ihnen gehört.

Transparenzhinweis: Die Verlagsgruppe Penguin Random House gehört zu Bertelsmann, dem Medienunternehmen gehören auch RTL Deutschland und der stern an.

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