Extremismus Nazi-Parolen am Nebentisch? Sechs Tipps, wie wir Zivilcourage zeigen können

Auf einer Demonstration hält ein Teilnehmer ein Plakat hoch, auf dem das nationalsozialistische Symbol im Müll verschwindet.
Nicht warten, bis jemand anderes etwas sagt: Zivilcourage bedeutet, für seine Werte einzustehen
© Andreas Stroh / Imago Images
An Pfingsten lag man sich auf Sylt in den Armen und grölte rassistische Sprüche: Zivilcourage ist wichtiger denn je, denn verbale wie auch körperliche Grenzüberschreitungen nehmen in unserer Gesellschaft zu.

Fast täglich werden wir Zeuge von rassistischen Kommentaren, von tätlichen Übergriffen, von demokratiefeindlichen Äußerungen. Manche wirken fast harmlos, anderen fühlen wir uns machtlos gegenüber: Fühlt sich die Frau dort hinten im Bus bedrängt? Habe ich das richtig gehört, haben die Typen gerade "Deutschland den Deutschen" gesungen? Warum reagiert niemand? Jeder kennt die Momente des Schocks, des Unglaubens, die uns davon abhalten, im rechten Moment einzugreifen. Dabei sind wir mehr denn je dazu herausgefordert, uns für ein respektvolles Miteinander einzusetzen. Nur wie? Silke Gorges, Trainerin für Gewaltprävention und Zivilcourage, erklärt uns, was Bürgermut ausmacht und wie wir ihn trainieren können.

Wer bin ich, für was stehe ich? Zivilcourage setzt voraus, dass wir uns der eigenen Werte bewusst sind. Bevor wir anderen Menschen zur Seite stehen können, müssen wir benennen können, was wir von ihnen erwarten: Respekt zum Beispiel, auch Toleranz. Werte sind wie ein Kompass, sie liefern uns den Impuls zu handeln, und so sollte sich jede und jeder fragen: In was für einer Gesellschaft will ich leben? Und: Sind meine Werte für alle gut? "Zivilcourage hat nicht nur damit etwas zu tun, dass ich mich bei Gewalthandlungen einsetze, die strafrechtlich relevant sind, sondern es geht auch um das respektvolle Miteinander in unserem Alltag“, sagt Silke Gorges. Dazu gehöre auch Mobbing und jede Form der Diskriminierung. Auch sexistische Nachrichten in einer WhatsApp-Gruppe, die wir nicht stehen lassen dürften.

Was ist das Ziel meiner Intervention?

Achtsam sein. Nur, wenn wir genau hinsehen und zuhören, können wir Situationen richtig einordnen: Was passiert gerade, worum geht es? Wird unsere demokratische Grundordnung verletzt? Wenn Feiernde rassistische Parolen grölen, wie es am Pfingstwochenende auf Sylt geschehen ist, dann sind wir dazu angehalten zu handeln. "Um angemessen reagieren zu können, müssen wir versuchen, die Täterinnen und Täter einzuschätzen“, sagt Silke Gorges, "und uns überlegen: Was kann das Ziel meiner Intervention sein und was traue ich mir selbst zu?"

Schockstarre abschütteln. Handeln kann nur, wer sich verantwortlich fühlt. Und das gelingt uns nicht immer. Denn je mehr Menschen eine Notsituation beobachten, desto geringer ist die Chance, dass einer von ihnen eingreift. "Das nennt man Verantwortungsdiffusion", erklärt die 55-Jährige. Manche Zeuginnen und zeugen wüssten nicht, wie sie in einer Notsituation am besten helfen könnten. Oder sie trauten sich nicht und hätten Angst, im Mittelpunkt zu stehen. Die Polizei zu rufen. Eine Aussage zu machen. Aus der Forschung ist bekannt, dass es jemanden braucht, der den Anfang macht. Silke Gorges sagt: "Wenn eine Person aufsteht, werden die anderen auch aktiv. Am Bahnsteig beispielsweise, im Team-Meeting, bei der Betriebsfeier: Wenn einer sagt, dass rassistische oder sexistische Sprüche hier nichts zu suchen haben, werden die anderen zustimmen." Das bedeutet, dass wir nicht warten, sondern selbst sofort aktiv werden müssen.

Hilfe holen. Wer eine Grenzüberschreitung wahrnimmt, in die betrunkene, womöglich gewaltbereite Menschen involviert sind, sollte als Erstes die Polizei rufen, und sich nach möglichen Verbündeten umsehen: Wer hat das außer mir mitbekommen? Wer wirkt kompetent und könnte mich unterstützen? "In dem Fall der skandierenden Frauen und Männer im Club Pony auf Sylt wäre es naheliegend gewesen, den Veranstaltern Bescheid zu geben“, sagt Silke Gorges. Den Kellerinnen und Kellnern, den Besitzern des Clubs und dem DJ, damit er die Musik stoppen kann. Gerade wenn es laut und unübersichtlich sei, könnten Veranstalter nicht immer alles mitbekommen. Eine weniger gute Idee wäre es gewesen, die Feiernden direkt zu konfrontieren und zu beschimpfen, gerade wenn Alkohol im Spiel ist oder Menschen aggressiv wirken: Das schüre den Konflikt, erklärt die Trainerin für Gewaltprävention, und könnte die Situation anheizen und eskalieren lassen. Wichtig sei immer besonnen zu handeln und sich nicht selbst in Gefahr zu bringen.

Zivilcourage müssen wir üben

Betroffene ansprechen. In Notsituationen wie sexuelle Belästigung, Mobbing, häusliche Gewalt, sollten wir nicht die Täterin oder den Täter ansprechen, sondern den Menschen, der in Bedrängnis ist: Fragen, ob man helfen könne. Zeigen, dass man die Notsituation beobachtet habe. Manchmal helfe es auch, sagt Silke Gorges, der paradoxen Intervention nach selbst um Hilfe zu bitten: Könnten Sie mal mitkommen und mir helfen, den Tisch zu tragen? Oder, nachdem man Schreie gehört und bei den Nachbarn geklingelt habe, zu fragen: Mir ist das Mehl ausgegangen, könnten Sie mir aushelfen? "Das kann deeskalierend wirken und verschafft allen etwas Zeit.“ In allen Notsituationen müssen wir uns den Tätern gegenüber klar ausdrücken. Nicht bitten. Nicht den Konjunktiv benutzen. Stattdessen sagen: "Fassen Sie mich nicht an“ oder "Sie gehen jetzt".

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Mut trainieren. Mit Zivilcourage sei es wie mit Erster Hilfe, erklärt Silke Gorges: Wer sich nicht mit ihr beschäftige, könne sie schlecht anwenden. Das Gute sei aber, dass wir den Impuls anderen zu helfen trainieren könnten wie einen Muskel: "Wenn ich mir immer wieder vor Augen rufe, wie ich reagieren könnte, wenn dies oder das passiert, dann kann ich im Ernstfall schneller etwas tun." Silke Gorges rät schüchternen Menschen, im Geschäft oder auf der Straße zu üben, Fremde anzusprechen. Sich immer wieder Situationen auszusetzen, die sie sich eigentlich nicht zutrauten, um ihre Selbstsicherheit zu stärken. Doch allgemeingültige Verhaltensregeln für Zivilcourage könne es nicht geben, erklärt die Expertin, denn jeder Mensch und jede Situation sei anders. Es gehe stattdessen darum, sich selbst verantwortlich zu fühlen, mutig zu handeln und sich darüber bewusst zu sein, dass man selbst aktiv werden müsse: "Nichts-Tun ist keine Option."

Mehr Informationen zum Thema unter Bundesnetzwerk Zivilcourage und unter dem Verein "Stark durchs Leben"