Expertin "Wir stehen am Beginn einer Ära von neuen Lebensmittelallergien"

  • von Andreas Beerlage
Margitta Worm zählt zu den führenden Forscherinnen in Sachen überschießender Abwehrreaktionen. Ein Gespräch über wirksame Antikörper, Spritzenstifte und Heuschnupfentabletten. 
Allergie: Allergene werden für Tests vorbereitet
Testen mit den Echten: Neben Allergen-Seren werden auch typische Verursacher von Überreaktionen direkt diagnostisch eingesetzt
© Gene Glover / stern

Das haben Sie bestimmt auch schon mal gehört: "Ach, die mit ihren Allergien, die sollen sich nicht so anstellen!"
Ich könnte jetzt antworten: "Darauf reagiere ich allergisch!" Aber auch diese Redewendung deutet an, dass hier eine Krankheit bagatellisiert wird. Allergien werden in ihrer Wirkung auf die Menschen grundsätzlich eher unterschätzt. Vielleicht, weil so viele Menschen Allergien haben, grob gesagt jeder Vierte. Und dann wird die laufende Nase, drei Wochen zur Birkenblütenzeit, in einen Topf geworfen mit schweren, lebensbedrohlichen Allergien, die es ja auch gibt: gegen bestimmte Lebensmittel, Medikamente oder Insektenstiche. So eine gefährliche Allergie, die sich in einem allergischen Schock äußern kann, kündigt sich aber meist mit kleineren Beschwerden an.

Der allergische Schock ist eines Ihrer Spezialgebiete.
Es ist sogar mein forscherisches Steckenpferd seit rund 15 Jahren. Gerade auch, weil ich diese Bagatellisierung von Allergien satthatte. Kern der Forschung ist das "Anaphylaxie-Register", das die Daten von inzwischen 15.000 Personen weltweit zusammenträgt, die so einen Schock erlitten haben.

Was geschieht dabei?
Typisch ist, dass verschiedene Organe gleichzeitig betroffen sind. Es gibt eine Vielzahl von Allergie-Symptomen, die beim Schock gemeinsam auftreten: Quaddeln, Ausschlag, Juckreiz auf der Haut. Dazu Jucken, Kribbeln und Brennen in Augen, Nase, Mund und Rachen. Die Nase fließt. Die Atemwege verengen sich, es kommt zu Atemnot. Übelkeit, Erbrechen und Durchfall gehören auch dazu. In letzter Konsequenz führt der Schock zu Atem- und Herzstillstand. Die Sterberegister nennen den Allergieschock bis zu 150-mal im Jahr als Todesursache. Ich gehe aber davon aus, dass die Dunkelziffer um das Zehnfache höher sein könnte, weil der Schock aufgrund seiner etwas diffusen Erscheinung nicht immer erkannt wird. Fällt ein Mensch einfach so um, denkt man doch eher ans Herz.

Was haben Sie bei Ihrer Befragung herausgefunden?
Dass die Auslöser altersabhängig sind: Bei Kindern stehen Nahrungsmittel an erster Stelle, bei den Erwachsenen sind es Insektenstiche. Kinder reagieren eher mit den Atemwegen, bei den Erwachsenen ist am häufigsten der Kreislauf gestört.

Für Gefährdete gibt es "Pens" – also Spritzenstifte mit lebensrettendem Adrenalin. Sollte jeder Allergiker so einen haben?
Das wäre dann doch etwas übertrieben. Wichtiger ist eine gute Aufklärung: Wer als Allergiker oder Allergikerin schon mal eine Reaktion hatte, bei der Kreislauf oder Atemwege beteiligt waren, sollte unbedingt in einer Allergologie-Praxis abklären lassen, ob er oder sie so ein Notfallset braucht. Denn in den allermeisten Fällen gab es bei schweren Schocks eine harmlosere Vorgeschichte.

Allergie: Arm eines Patienten im Labor
Ein Patient erwartet seine Blutabnahme zur weiteren Untersuchung
© Gene Glover / stern

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