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Antidepressiva Der Körper spielt verrückt

Muskelschmerzen, Heulkrämpfe, Schwindel und Durchfall: Das sind nur einige der Beschwerden, mit denen sich Patienten herumschlagen müssen, die Antidepressiva wechseln oder absetzen. Über die Ursachen des Phänomens wird gerätselt.

Als Gina O'Brien glaubte, dass sie gegen ihre Panikattacken keine Medikamente mehr benötigt, befolgte sie den Rat ihres Arztes: Behutsam verringerte sie die Dosis des Antidepressivums Paxil, um unangenehme Begleiterscheinungen beim Absetzen zu vermeiden. Vergeblich. "Ich fühlte mich so krank, ich konnte nicht einmal vom Sofa aufstehen", erzählt die Frau aus dem US-Staat Michigan. "Ich war nur noch am Weinen." Unter dem Druck von Übelkeit und Heulkrämpfen sah O'Brien keinen anderen Ausweg, als zu den Pillen zurückzukehren. Mehr als ein Jahr später nimmt die Frau noch immer Paxil, das in Deutschland unter dem Handelsnamen Seroxat verkauft wird.

Vor fast zwei Jahrzehnten kam mit Prozac das erste Antidepressivum der so genannten Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) auf den Markt. Seitdem häufen sich Berichte von Patienten, die beim Absetzen der Mittel heftige Beschwerden erleiden. Bei den gängigen Präparaten Effexor (Wirkstoff Venlafaxin) und Paxil gibt es so viele Klagen, dass manche Ärzte sie nicht mehr verordnen. "Ich lehne das nicht grundsätzlich ab, aber letztlich neige ich dazu, Effexor oder Paxil nicht zu verschreiben", sagt der Psychiater Richard Shelton von der Vanderbilt Universität.

Umstellung bringt Beschwerden

Patienten klagen über Beschwerden verschiedenster Art, die mitunter schon Stunden nach dem Absetzen auftreten. Sie reichen von Übelkeit, Muskelschmerzen und Heulkrämpfen bis hin zu Schwindel und Durchfall. Manche Menschen berichten von elektrischen Impulsen, die sich vom Hinterkopf ausbreiten.

Auch Toni Wilson ahnte nichts Böses, als ihr Arzt sie von Zoloft auf Wellbutrin umstellte. Da die beiden Antidepressiva auf verschiedene neurochemische Systeme wirken, kam die Umstellung einem Entzug von Zoloft gleich. "Nach drei Tagen fühlte ich mich ängstlich und reizbar", erzählt die Frau aus Kansas. "Ich zitterte, aß kaum noch und hatte das Gefühl, als ob kleine Nadeln in meinem ganzen Körper steckten."

Es mangelt an Wissen

Philip Ninan, Vizechef der Neurowissenschaft beim Pharmakonzern und Effexor-Hersteller Wyeth, sieht die Ärzte in der Pflicht. Der Umgang mit den Symptomen sei recht einfach, wenn man sich auskenne, sagt Ninan. Aber an Wissen mangelt es, wie eine Befragung britischer Ärzte aus dem Jahr 1997 zeigt: 28 Prozent der Psychiater und 70 Prozent der Allgemeinmediziner wussten nicht, dass beim Absetzen von Antidepressiva Probleme auftreten können.

Offen sind vor allem die Ursachen des Phänomens. Möglicherweise liegt die Erklärung darin, dass der Botenstoff Serotonin weit mehr als nur die Stimmung reguliert. Der Neurotransmitter spielt auch für Schlaf, Gleichgewicht, Verdauung und andere Körperprozesse eine wichtige Rolle. Greift man also in den Serotonin-Haushalt ein, kann dies den ganzen Körper beeinflussen. Generell verursachen diejenigen Präparate, die am schnellsten abgebaut werden, laut Shelton die gravierendsten Symptome. In dieser Hinsicht ist das rapide verstoffwechselte Effexor besonders bedenklich, Prozac mit einer Halbwertzeit von etwa einer Woche vermutlich sicherer. Manche Ärzte stellen ihre Patienten daher zuerst von Effexor oder Paxil auf Prozac um, bevor sie diese Arznei herabdosieren.

"Man fühlt sich einfach grauenhaft"

Die britische Zulassungsbehörde veröffentlichte im Dezember 2004 einen Bericht, demzufolge alle SSRI Entzugssymptome verursachen können. Bei Paxil und Effexor seien solche Reaktionen scheinbar häufiger, heißt es darin. Pharmakonzerne betonen dagegen, dass Antidepressiva keine Entzugssymptome verursachen, da sie ja keine eigentliche Sucht auslösen. Dennoch: Manche Menschen können nach dem Absetzen wochenlang nicht arbeiten, Auto fahren oder Freunde treffen.

"Man fühlt sich einfach grauenhaft", sagt ein Unterhaltungskünstler aus New York. Er nimmt seit acht Jahren Effexor in geringer Menge, um Absetzsymptome zu vermeiden und das Mittel bei akutem Bedarf nehmen zu können. Aber auch der Dauergebrauch von SSRI ist für viele Patienten keine Option, wegen der Nebenwirkungen wie etwa Gewichtszunahme und Sexualstörungen.

Besonders heikel sind die Präparate für Frauen mit Kinderwunsch: Auch bei Neugeborenen, deren Mütter SSRI nahmen, stellten Forscher Entzugssymptome fest. Die Abhängigkeit von dem Mittel Paxil erfüllt O'Brien mit Wut auf den Hersteller, dem sie sich ausgeliefert fühlt und der davon noch profitiere. "Wenn die jemals die Produktion von Paxil beenden, stecke ich in der Patsche", klagt sie. "Aber was mich wirklich aufregt, ist, dass ich dafür auch noch zahle. Eigentlich müssten die mir Geld geben."

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Matt Crenson/AP AP

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