Herr Prof. Gaebler, Sie haben in München Françoise Barré-Sinoussi getroffen. Die französische Virologin entdeckte 1983 das HI-Virus. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?
Das war etwas ganz Besonderes. Françoise Barré-Sinoussi hat nicht nur zusammen mit Luc Montagnier vor über 40 Jahren das HI-Virus identifiziert, sie hat auch ihr Leben lang gegen HIV und Aids gekämpft. Eine beeindruckende Persönlichkeit – als Mensch und als Forscherin. Als sie 2008 den Nobelpreis erhielt, teilte sie sich ihn übrigens mit dem deutschen Virologen Harald zur Hausen, der erkannt hat, dass humane Papillomviren (HPV) Gebärmutterhalskrebs verursachen können.
Sie hatten in München einen besonderen Auftritt: Sie haben die Daten des zweiten Berliner Patienten vorgestellt, der nach einer HIV-Diagnose als geheilt gilt. Wie ist das gelungen?
Bisher gibt es weltweit erst sieben dieser Patienten. Die Methode war bei allen gleich: eine Stammzelltransplantation. Die erhalten sie, weil sie nicht nur die Diagnose HIV haben, sondern auch Blutkrebs. Eine Stammzelltransplantation ist notwendig, wenn beispielsweise eine Chemotherapie nicht ausreicht, um den Blutkrebs zu heilen. Bei Menschen mit HIV versucht man, einen Spender oder eine Spenderin zu finden, deren Immunsystem nicht anfällig für HIV ist. Das ist bei etwa einem Prozent der Menschen in Deutschland der Fall. Bei ihnen ist ein Rezeptor auf der Oberfläche von Immunzellen verändert, an den das HI-Virus normalerweise andockt, um in die Zelle einzudringen. Die Mutation verwehrt den Eintritt. Man schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: die Leukämie und HIV.

Zur Person
HIV-Forscher Prof. Christian Gaebler ist Arbeitsgruppenleiter an der Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin der Charité und dem Berlin Institute of Health in der Charité
Wie unterscheidet sich Ihr Patient von den anderen sechs?
Auch für ihn hatte man nach einem Spender mit der Mutation gesucht. Damit die genetische Veränderung wirklich wirkt, sollten bei der Person beide Kopien des Gens – wir erben eine vom Vater und eine von der Mutter – die Mutation aufweisen. Man fand aber niemanden. Also hat man eine Spenderin mit einer "halben" Mutation genommen, mit nur einer Kopie des Gens – obwohl man nicht davon ausgehen konnte, dass die Heilung damit gelingt. Am Ende hat es doch geklappt. Der Patient beendete auf eigenen Wunsch seine HIV-Medikamente, und das Virus ist nicht mehr nachweisbar. Das ist nun fast sechs Jahre her.
Das ist erstaunlich, denn wenn Menschen mit HIV sonst ihre Therapie stoppen, kehrt das Virus innerhalb weniger Wochen oder Monate zurück. In der Theorie reicht eine einzige infizierte Zelle aus, um die Erkrankung wieder aufflammen zu lassen.
Das stimmt, und auch wir waren überrascht – und müssen unsere alten Theorien überdenken. Vielleicht hat der mutierte Rezeptor weniger Einfluss, als wir bislang angenommen haben. Einem anderen Mann, dem "Genfer Patienten", wurden Stammzellen sogar ganz ohne Mutation transplantiert – und auch er gilt als geheilt. Wahrscheinlich hat das neue, transplantierte Immunsystem den viel größeren Effekt – indem es die letzten HIV-infizierten Zellen der Patienten, die sich noch versteckt halten, mit der Zeit zerstört.
Warum können wir HIV bis heute nicht im großen Stil heilen?
Retroviren wie das HI-Virus haben über Jahrmillionen bis zur Perfektion gelernt, unserem Immunsystem zu entkommen. Es bedient sich eines perfiden Tricks, um zu überleben und sich zu vermehren, indem es seine Erbinformation in den genetischen Bauplan der Immunzellen einbaut – und zwar genau in die Immunzellen, die eigentlich Krankheitserreger erkennen und bekämpfen sollen. Solange sich das Virus ruhig verhält, wird es vom Immunsystem nicht gefunden. Außerdem befällt das Virus nur sehr wenige Immunzellen. Dadurch wird eine potenzielle Therapie ein bisschen wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Am Ende reicht aber eine Nadel oder ein Virus, um die Krankheit zu reaktivieren. Beides zusammen macht eine Heilung so schwierig.
Umso großartiger, dass es in Berlin schon das zweite Mal geklappt hat.
Ja, das stimmt, und jetzt müssen wir schnell herausfinden, wie es dem Spenderimmunsystem gelungen ist, das Geheimversteck des Virus aufzuspüren und es zu vernichten. Dann können wir diesen Mechanismus kopieren, therapeutisch nutzen – und hoffentlich eines Tages den 40 Millionen Menschen zugänglich machen, die auf der Welt mit HIV leben. Wir müssen eine Alternative zur Stammzelltransplantation finden, die bei Menschen ohne Blutkrebs viel zu risikoreich wäre. Das wird nicht morgen sein, aber wir dürfen jetzt auf keinen Fall mit der Arbeit aufhören; wir haben schon so große Fortschritte gemacht.
Sieben Fälle bei 40 Millionen Menschen mit HIV weltweit, das ist weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein. Welche weiteren Strategien gibt es, um diese unvorstellbar hohe Zahl in den Griff zu bekommen?
Wenn wir diese HIV-Epidemie beenden wollen, brauchen wir drei Dinge. Das eine ist die HIV-Prävention, das heißt, wir müssen Neuansteckungen verhindern. Dann brauchen wir für alle Zugang zu einer effektiven Therapie. Menschen, die gut behandelt sind, können das Virus nicht übertragen. Bisher bekommen nur 75 Prozent der 40 Millionen Menschen mit HIV eine entsprechende Therapie. Und wir müssen diejenigen schneller finden, die noch nichts von ihrer HIV-Infektion wissen. Mit einfacheren Tests. Und indem wir die Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV aktiv bekämpfen und beenden.
Die Welt-Aids-Konferenz 2024 in München wird auch deshalb in Erinnerung bleiben, weil neue Daten zeigen, dass der Wirkstoff Lenacapavir sämtliche Ansteckungen verhindern kann.
Richtig, wir konnten sehen, dass Lenacapavir in einer klinischen Studie HIV-Neuinfektionen zu 100 Prozent verhindert hat. Das ist eine Sensation! In den beiden anderen Studienarmen, in denen die Probandinnen aus Südafrika und Ghana Tabletten einnahmen, traten 16 und 39 Neuinfektionen auf. An Tabletten muss man jeden Tag denken, aber eine Spritze vergisst man nicht. Wir kennen das Medikament seit 2022, es ist zugelassen, um eine HIV-Infektion zu behandeln, bei der alle anderen Mittel versagt haben. Es verhindert, dass sich das Virus vermehrt. Momentan stecken sich 1,3 Millionen Menschen jedes Jahr neu mit HIV an. Indem wir schon existierende präventive Medikamente und in Zukunft auch Lenacapavir breiter einsetzen, könnten wir die Neuinfektionen deutlich senken.
Auch in Deutschland infizieren sich immer noch Menschen, im Jahr 2023 waren es etwa 2200 Menschen – das ist grob die Hälfte im Vergleich zu 1985, als die Zahl mit 5500 Neuinfektionen am höchsten war. Warum sind das immer noch so viele?
Die Infektionszahlen steigen vor allem in Gruppen, die ein erhöhtes Risiko haben, sich anzustecken, beispielsweise Sexarbeitende oder Drogengebrauchende. Diese Gruppen würden von Präventionsmaßnahmen profitieren, eben jenen Medikamenten, die einer Infektion vorbeugen. Wir müssen weiter aufklären und den Zugang zu Präventionsmaßnahmen und regelmäßiger Testung erleichtern. Das klare Ziel sollte sein, keine Neuinfektionen mehr zu haben!
Was bleibt Ihnen von den vergangenen Tagen besonders in Erinnerung?
Bei der Welt-Aids-Konferenz kommen 10.000 Menschen zusammen, die alle ein Ziel haben: das HI-Virus besser zu verstehen und die HIV/Aids-Epidemie zu beenden. Wenn man sieht, mit welcher Begeisterung Menschen aus aller Welt da rangehen, motiviert mich das ungemein, zusammen an diesem Ziel weiterzuarbeiten. Eine sehr inspirierende Veranstaltung.