Frau Dr. Freiberger, Sie forschen zum Thema Stürze. Warum?
Stürze sind ein riesiges Thema: Jeder dritte Mensch über 65 stürzt mindestens einmal im Jahr, viele sogar mehrmals. Bei den Über-80-Jährigen stürzt sogar jeder Zweite mindestens einmal im Jahr. Das macht alles in allem vier bis fünf Millionen Stürze jährlich - und mit dem demografischen Wandel werden diese Zahlen weiter steigen. Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer noch deutlich höher: Viele ältere Menschen verschweigen, dass sie gestürzt sind. Sie haben Angst, dass die Familie sagt: "Es ist zu gefährlich, dass Du allein lebst, Du kommst ins Pflegeheim".
Ist denn jedes Stolpern und Hinfallen gleich ein Anlass zur Sorge?
Auch harmlose Zwischenfälle sollte man ernst nehmen: Ein Sturz ist immer ein Warnzeichen des alternden Körpers. Aber wenn er glimpflich abläuft, registrieren viele Menschen ihn auch überhaupt nicht. Sie sagen dann vielleicht: "Ich bin die Kellertreppe hochgestolpert".
Nicht immer laufen Stürze so glimpflich ab...
Jeder Zehnte verletzt sich beim Stürzen. Manchmal sind das nur Prellungen oder Blutergüsse, aber in der Hälfte dieser Fälle tritt der "Worst Case" ein: Oberschenkelhalsbruch. Die Chance, danach wieder uneingeschränkt ins alte Leben zurückzukehren, ist ausgesprochen gering. 25 Prozent der Patienten sterben sogar binnen eines halben Jahres nach einem solchen Bruch.
Wie kommt es eigentlich, dass ältere Menschen so viel häufiger stürzen als junge?
Da kommen viele Faktoren zusammen. Beispielsweise nehmen ältere Menschen oft ein ganzes Dutzend Medikamente - das beeinflusst den Kreislauf und führt zu Gleichgewichtsstörungen. Außerdem sehen viele schlecht und übersehen Stolperfallen ganz einfach.
Das klingt, als könne man hier relativ einfach eingreifen.
Ja, manchmal können schon eine neue Brille oder die Abstimmung der verschiedenen Medikamente Wunder wirken. Andere Probleme lassen sich nicht so einfach beseitigen. Beispielsweise lassen im Alter die kognitiven Fähigkeiten nach: Ich erinnere mich nicht daran, dass ich die Einkaufstüten im Flur abgestellt habe, und segele drüber. Besonders fatal sind der Bewegungsmangel und seine Folgen: Die Muskeln bilden sich zurück. Wenn ich zum Beispiel keine Kraftmuskeln im Bein habe, kann ich das Bein nicht richtig heben, bleibe mit dem Zeh an der Treppenstufe hängen und falle hin.
Und wahrscheinlich wächst mit jedem Sturz die Angst, es könnte erneut passieren...
Am schwersten stürzen meist die, die gar keine Angst haben. Die, die mit 80 noch auf der Leiter stehen und die höchsten Kirschen am Baum pflücken wollen. Angst wirkt eben bis zu einem gewissen Grad auch schützend. Aber auch wenn die Angst zu groß wird, wird es gefährlich: Durch die Angst schränkt man seine Aktivitäten immer mehr ein, der Körper baut immer mehr ab. Aber irgendwann muss man eben doch zum Bäcker und Brötchen holen, und dann ist der nächste Sturz vorprogrammiert - weil die Muskeln sich zurückgebildet haben.
Wie kann man da gegensteuern?
Am besten mit körperlicher Aktivität. Es gibt den Slogan: "Führen Sie Ihren Hund spazieren, auch wenn Sie keinen haben." Sie sollten fünfmal pro Woche ins Schnaufen kommen. Das muss kein Sport sein - planen Sie im Alltag Bewegung ein, nehmen Sie die Treppe statt des Lifts oder parken Sie nicht direkt vor dem Supermarkt, sondern ein Stück entfernt. In unserem Forschungsprojekt "Standfest im Alter" konnten wir zeigen, dass man mit gezielten Trainingsprogrammen die Anzahl von Stürzen senken kann. Es ist nie zu spät, damit zu beginnen - auch für Menschen, die körperlich eingeschränkt sind.
Wie kann man das häusliche Umfeld sturzsicher machen?
Ein Großteil der Stürze geschieht in der Wohnung. Wir empfehlen deshalb, Stolperfallen zu entschärfen - zum Beispiel wacklige Beistelltische, herumliegende Telefonkabel, lose auf dem Boden liegende Läufer.
Viele ältere Menschen werden sicherlich nur widerstrebend in Kauf nehmen, dass ihre Wohnung derart auf den Kopf gestellt wird.
Wir haben bei unserer Arbeit gelernt: Es hat keinen Sinn, alle Stolperfallen wegzuräumen. Wenn man ein halbes Jahr später wieder in die Wohnung kommt, ist alles wieder wie vorher - schließlich erinnert der Teppich an den verstorbenen Mann. Die Regel lautet deshalb: Nichts wegnehmen, sondern etwas hinzufügen. Kleben Sie lieber doppeltes Klebeband unter den rutschigen Läufer.
An wen können sich ältere Menschen wenden, wenn sie beim Thema Stürze vorsorgen wollen?
Manchmal können die Krankenkassen einen Kontakt herstellen. Aber leider ist gibt es bisher nur sehr vereinzelt Kurse zur Sturzprävention, meist von den Universitäten ins Leben gerufen wie unser Projekt "Standfest im Alter", bei dem wir auf Kraft-, Gleichgewichts- und Koordinationstraining setzen. Und auch in den Sportvereinen gibt es viel zu wenige Angebote für ältere Menschen. Daran merkt man einmal mehr, wie wenig sich die Gesellschaft auf die Bedürfnisse älterer Menschen einstellt. Oft sind nicht einmal die Ampeln lange genug grün, damit sie sicher und ohne Hast über die Straße gehen können.
Dr. Ellen Freiberger ist Sporttherapeutin und Gerontologin am Institut für Sportwissenschaften und Sport der Universität Erlangen-Nürnberg und leitet das Forschungsprojekt "Standfest im Alter".