Don Quichotte las mit solcher Hingabe Romane, dass er irgendwann die Welt nicht mehr verstand. Er war der passende Patron für eine Tagung am vergangenen Wochenende im Frankfurter Instituto Cervantes. Sie stand unter dem Titel "China und die Welt: Wahrnehmung und Wirklichkeit". Für beides geriet sie zum Lehrstück.
Als Ouvertüre zum Buchmessen-Schwerpunkt China hatten die Messeleitung, das P.E.N.-Zentrum und etliche Mitveranstalter zu einem hochkarätigen Symposion geladen. Unter gewöhnlichen Umständen wäre man froh gewesen, wenn hinterher eine Handvoll Journalisten vernünftig darüber berichtet hätte.
Dadurch aber, dass die chinesische Delegation die Teilnahme zweier kritischer Autoren, Dai Qing und Bei Ling, zur Staatsaffäre machte und brüskiert den Saal verließ, kam es zum Eklat. Nun stürzte sich die ganze Medienmeute darauf. Nicht etwa aufs Symposion, nur auf den Skandal. Wer nannte auch nur die Namen der übrigen Teilnehmer? Wer setzte sich auch nur mit einem Beitrag auseinander? Dafür ist kein Platz, auch keine rechte Zeit, vor allem aber - es ist keine News. Ein Eklat dagegen, das ist News! Für einen Skandal ist immer Platz, ganz vorne und ganz schnell.
Zu den Protagonisten des Lehrstücks gehört ein ehemaliger chinesischer Botschafter, der sich bitter über die Ignoranz und Arroganz der deutschen Medien beklagte - die ihrerseits die Ignoranz und Arroganz der Kulturfunktionäre anprangerten. Außerdem zwei Dissidenten, die beteuerten, dass sie ihr Land trotz allem liebten. Und ein Buchmessendirektor, der sich, heiliges Gastrecht einfordernd, bis zur Selbstaufopferung vor seine Gäste stellte - und der diese doch nicht vor sich selber schützen konnte, vor ihrem Lagerdenken, ihrem gekränkten Stolz und ihrer Unbelehrbarkeit im Umgang mit kritischer Öffentlichkeit. Wodurch sie eben jenen Stimmen Gehör verschafften, die sie um keinen Preis beachtet wissen wollten.
Chinesische Medien haben bisher kaum über den Vorfall berichtet. Die meisten beließen es bei einer unverfänglichen Veranstaltungsnotiz, nur die Tageszeitung "Global Times" resümierte das Geschehen ausführlicher. Wobei sich das Zerwürfnis dann mit Ach und Krach beilegen ließ und in einen nervösen, aber produktiven Austausch überging. Aber daran schien auch die chinesische Presse nicht näher interessiert.
Eine Aura der Melancholie um Dissidenten
Im Westen werden Dissidenten als heroische Individuen betrachtet, die unter hohen Opfern die Freiheit des Geistes hochhalten. In China aber umgibt sie eine Aura der Melancholie. Es gibt kaum einen traurigeren Anblick als den eines vereinzelten Chinesen, abgeschnitten oder gar verstoßen vom bergenden Kollektiv. Und so erscheinen Dissidenten dort oft als Ritter von der traurigen Gestalt, ob sie nun gegen Windmühlen kämpfen oder, wie die Umweltjournalistin Dai Qing, gegen Staudämme.
Wie es umgekehrt zugeht, wenn Autoren in den Himmel gehoben werden, war dieser Tage in Peking zu erleben. Der tibetisch-chinesische Schriftsteller Alai legte seine Version des "König Gesar" vor, des wichtigsten Epos' der Tibeter wie auch anderer mittelasiatischer Völker. Der Stapellauf seines Buches wurde mit einem Aufwand gefeiert, wie er im Westen allenfalls großen Filmproduktionen zuteil wird. Eine Weltpremiere in neun Sprachen! Ein Dutzend Offizielle überboten sich darin, Alai in den Olymp der Gegenwartsliteratur zu hieven. Und dreihundert Journalisten hörten ergeben zu. Inmitten des Trubels saß still und verloren der Autor. Sichtlich beunruhigt, wie sein Werk sich verselbständigte, wie andere die Regie übernahmen - ein Dissident des Erfolges.
Chinesisch-tibetischer Autor wird Schlüsselfigur
Alai wird eine Schlüsselfigur bei Chinas Auftritt auf der Buchmesse werden. Das literarische China hofft sogar darauf, dass er umgehend den Nobelpreis zugesprochen bekommt, und sei es aus taktischen Gründen, gibt er doch Tibet und China eine Stimme, genauer gesagt Tibet in China. Auf ihn können sich alle einigen, und seine Anwesenheit in Frankfurt nimmt der Kritik den Wind aus den Segeln, nach dem Motto: "Was wollt ihr denn, wir sind durchaus tolerant, wir feiern sogar einen tibetischen Autor."
Mühsam versuchte Alai, in jene Welt zurückzufinden, in der Schriftsteller am ehesten zu Hause sind: in die der Bücher. Ob nun Marketing oder Propaganda, meinte er - das alles sei Beiwerk, und wirkliche Bedeutung habe allein die Literatur.
Davon wird es in Frankfurt übergenug geben, aus China und anderswoher. Und wenn der Eklat darauf neugierig gemacht hat, hätte das Symposion ja sogar sein Ziel erreicht.