Am Anfang des Debütromans "Flut und Boden" von Per Leo, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, steht eine Art "Giftschrank". In der Villa seiner Großeltern hebt der Ich-Erzähler einen blau-weißen Vorhang an und holt die Bibliothek des Großvaters aus dem Dunkeln.
Opa Friedrich war ein "lupenreiner Nazi". Sturmbannführer der SS, Abteilungsleiter im Rasseamt. "Gutes Haus, schiefe Bahn, SS-Karriere - diese Geschichte erzählte ich bald mit einer Virtuosität, die ihre Wirkung fast nie verfehlte", schreibt Per Leo, der unschwer als Ich-Erzähler zu erkennen ist. "Ganze Batterien höherer Töchter hätte man mit der Edelnazi-Masche ins Bett kriegen können."
Täter und Opfer in einer Familie
Doch Leo widmet sich nicht nur seinem SS-Großvater, sondern auch dessen Bruder Dr. Martin Leo. Er zeichnet das Doppelporträt zweier Brüder, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Großvater Friedrich brach das Gymnasium ab, machte eine Lehre als Forstarbeiter und wurde Bauer. Er war eine "Sonntagsleseratte", daher die Bibliothek.
Sein Bruder Martin, promovierter Goetheliebhaber, war dagegen ein Schöngeist. Er litt unter Morbus Bechterew, einer schmerzhaften rheumatischen Erkrankung, bei der die Gelenke versteifen. Im Frühjahr 1938 wurde ihm dies zum Verhängnis. Die Nazis ließen ihn zwangssterilisieren, während sich sein Bruder anschickte, im NS-Staat Karriere zu machen. Täter und Opfer in einer Familie. Was für eine Geschichte.
Verwirrende Abkürzungen
Man folgt dem Autor gerne in die Weserstraße 84 in Bremen Vegesack, wo Martin und Friedrich aufgewachsen sind. Hört das Wasser der Weser, schmeckt das Frikassee der Großmutter. Doch die anfängliche Begeisterung für dieses fein gewebte, schön geschriebene Buch weicht schnell, weil man sich hoffnungslos in der Familiengeschichte verirrt.
Anders als im Treppenhaus der Villa, wo eine Ahnengalerie hängt, ist im Buch kein Stammbaum abgedruckt. Vielleicht aus ästhetischen Gründen. Doch der Autor macht es seinen Lesern unnötig schwer, weil er die handelnden Personen auch noch abkürzt als "W36", "M 42" oder "Enkel S". Das liest sich dann so: "Doch dann hatte M42 eine Idee. Zusammen mit W36 und M41s Kindern, drei Töchtern und einem Sohn aus zwei gescheiterten Ehen, kaufte er eine Grabstätte ..."
Brüder bleiben abstrakt
Erschwerend kommt hinzu, dass das Buch keine durchgängige Handlung hat, sondern Episoden aus der Gegenwart und Vergangenheit erzählt. Martins Zwangssterilisierung wird mit ein paar Sätzen abgehandelt. Auf den letzten Seiten des Buches ist zu lesen, dass er nach Sachsen ging und eine Familie gründete. Man stutzt und muss sich selbst zusammenreimen, dass Martin also schon Familienvater war, als die Nazis ihn sterilisierten. Die Frage, ob er sich gewehrt oder seinen Bruder um Hilfe gebeten hat, bleibt unbeantwortet.
Auch die Geschichte von Nazi-Opa Friedrich erzählt Per Leo nicht aus. Zwar beschreibt der Autor den Werdegang seines Großvaters vom Forstarbeiter zum Rassenwächter. Doch über das Leid seiner Opfer, die er zu begutachten hatte, liest man so gut wie nichts. So bleiben die beiden Brüder Martin und Friedrich eigentümlich abstrakt.
Sachbuch im Gewand eines Romans
Die "Giftkiste" am Anfang des Buches hat es so nie gegeben. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Klischee. Die wahre Geschichte des Buches ist viel unspektakulärer: Per Leo, promovierter Historiker, hatte für die Festschrift seines Doktorvaters einen Beitrag über Martins Schicksal geschrieben. Seine spätere Lektorin las den Text und fragte Leo, ob er nicht ein Buch schreiben wolle. So entstand der Roman, dem man manchmal anmerkt, dass er eigentlich ein Sachbuch werden sollte.
Laut erzählte Nazi-Geschichten gebe es schon genug, sagt der Autor in Interviews. Er wollte eine "leise" Geschichte erzählen. Dazu passt der Titel "Flut und Boden" allerdings nicht. Ein leises Buch braucht halt, wenn es Aufmerksamkeit erregen soll, einen lauten Titel. Die Jury lobte die "ungewohnten stilistischen und dramaturgischen" Mittel, die Leo "zum Roman geformt" hätte. Vermutlich ist damit die Erzählweise gemeint. "Flut und Boden" ist auch kein schlechtes Buch, nein. Doch die Nominierung ist zu viel der Ehre. Offenbar fahren nicht nur höhere Töchter auf Nazienkel ab, sondern auch Jurymitglieder.