M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Wen soll ich nur wählen?

  • von Micky Beisenherz
Illustration unentschlossen vor der Bundestagswahl: eine Mann trägt ein schweres Kreuz, das aus den Farben der Parteien besteht
"Wie ein Depp vor dem Zauberwürfel blicken wir auf mögliche Kombinationen", schreibt Micky Beisenherz vor der Bundestagswahl
© stern-Montage: Illustration: Dieter Braun
Unserem Kolumnisten geht es wie Millionen anderen Deutschen auch: Er steht unentschlossen und ratlos vor der Wahlkabine. Doch er weiß: Diesmal geht es wirklich um etwas.

"Ja, was denn nun?" – Deutschland leidet unter Elektionsstörungen. Was bei Netflix oder den einschlägigen Lieferdiensten zumindest noch ein vorfreudiges Kribbeln auslöst, das endet beim Gedanken an den Wahlsonntag in kollektiver Ratlosigkeit. "Wen soll ich wählen?", fragen sich deutschlandweit Millionen Menschen. All die Unentschlossenen, die ein Dasein fristen im Schatten der Balken, die seit Monaten unbewegt wie Eichen die Stimmungslage der Umfragedeutschen ausweisen.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Beim Streaminganbieter verständigt man sich schlussendlich auf etwas, das einem auf der heimischen Couch Freude macht. Darauf deutet das Angebot bei der Bundestagswahl eher nicht hin. Mit wem ich auch rede: Niemand weiß genau, wem er seine Stimme geben soll. Selten habe ich eine derartige Unentschlossenheit erlebt. Wie ein Depp vor dem Zauberwürfel blicken wir auf mögliche Kombinationen. Fast beneide ich den enthusiasmierten Rand, der betonfest überzeugt ist, dass die AfD die Rettung für Deutschland sei. Für manche ist die Wahlkabine zu einer Art Kapelle verkommen. Der reine Glaube schlägt ein größeres Interesse daran, Wahlprogramme genauer zu studieren. Mehr noch: Trotz und Revanchismus sind ein kraftvoller Treiber beim Urnengang. Solange die Verachtung für die Gegenseite stärker ist als der Zweifel an der Lauterbarkeit der eigenen Kandidaten, ist zumindest im AfD-Milieu nicht mit einer Umkehr Richtung Mitte zu rechnen.  

Aber was bietet die Mitte denn an? Da wäre mit Robert Habeck ein Mann, dem speziell bei Frauen sensationelle Persönlichkeitswerte nachgesagt werden. Als stünden nur Frauen auf Eloquenz oder ein gewisses Talent zum Selbstzweifel. Übrigens zwei Eigenschaften, derer der noch amtierende Bundeskanzler eher unverdächtig ist. Habeck ist ein Mann, der wie kaum ein anderer die großen Fragen unserer Zeit formulieren kann. Doch leider findet er zu selten befriedigenden Antworten darauf. Kann ein Mann, der als Wirtschaftsminister knietief in den roten Zahlen steckt, die Hoffnungen wecken, mit ihm als Kanzler würde das plötzlich anders werden? Ja, Habeck ist ein Pragmatiker. Nur spätestens, wenn der Grünen Jugend ein Mikro unter die Nase gehalten wird, ist klar: Zu den Grünen passt der eigene Spitzenkandidat nicht so wirklich.  

Die Makel der Parteien

So ist es verhandlungstaktisch zwar dumm, aber in der Sache nicht falsch, wenn Markus Söder vor Schwarz-Grün und noch mehr vor Habeck warnt, als sei es eine giftige Wolke, die auf Deutschland zu zöge. Dabei ist Schwarz-Grün zumindest auf dem Papier eine nette Idee. Zwei Parteien, die das Beste des Markenkerns einbrächten. Aber so haben Journalisten am Anfang auch von der Ampel geschwärmt. "Drei Parteien, die all ihre Stärken ausspielen!" Leider nur zum Tauziehen-Gangbang. Das Ende der Geschichte ist bekannt. 

Das Gesicht des gescheiterten Dreierbündnisses ist Olaf Scholz. Und er ist auch mehr Gesicht als Wort. Die gesamte Rhetorik des Von-hinten-Führers war stets darauf angelegt, für nichts haftbar gemacht zu werden. Die unbedingte Fehlervermeidung hat bei der Stolperolympiade der Wahlen von 2021 funktioniert. Doch auch wenn der Sozialdemokrat beharrlich so tut: Dieser Stunt lässt sich nicht wiederholen. Das weiß Scholz natürlich selbst. Weshalb er beim RTL-Quadrell mit der erwartungsfrohen Lässigkeit der Frühverrentungsperspektive betont locker am Pult lehnte

Bliebe noch die Partei selbst. Programmatisch hat die SPD mit dem Bürgergeld die AfD zur neuen Arbeiterpartei gemacht; strategisch hat sie den Fehler begangen, mit Boris Pistorius nicht den aussichtsreichsten Kandidaten aufzustellen. Der wird jetzt mutmaßlich Vize-Kanzler unter Friedrich Merz, weil nicht wenige SPD-Anhänger am Spitzenkandidaten vorbei auf den Verteidigungsminister schielen, wenn sie am Ende dann doch wieder rot wählen! Den CDU-Kandidaten hätten sogar einige stramme Sozialdemokraten fast gewählt aus staatspolitischer Verantwortung. Im festen Glauben daran, dass es zunächst mal eine stabile, möglichst ruckelfreie konservative Regierung braucht, um die AfD klein zu halten. Alice Weidel, die stets so schaut, als hätte sie bereits eine halbe Kotzfrucht hinter sich, zieht aus der allgemeinen Kompromiss-Ermüdung der Bevölkerung das größte Potenzial. Bloß nicht wieder Kompromisse! Bloß nicht wieder sagen, was nicht geht! Dass Weidel eine noch größere Verachtung für Konkretes hat als für den politischen Gegner – geschenkt. 

Was Merz geritten hat, plötzlich eine gemeinsame Abstimmung mit Chrupalla und Co im Bundestag anzustreben, weiß nur er selbst. Vermutlich hat Söder es ihm eingeredet. Zwischenzeitlich war er da wieder, dieser Zweifel, ob der impulsive Sauerländer nicht doch mal komplett nach rechts abkippt. Hunderttausende auf den Straßen zumindest waren sich dessen sehr sicher, und andere dachten sich folgerichtig: Bevor ich Grüne oder Sozialdemokraten wähle, die mit diesem Merz koalieren wollen, wähle ich doch lieber die halbtote Linke mit der strammen Heidi!  

Die Entscheidung für die Wahl

Und jetzt? Vielleicht mal FDP wählen, um die romantische Vorstellung zu leben, eine vom Aussterben bedrohte liberale Partei im Bundestag zu erhalten? Patenschaft für Lindner statt Patenschaft für ein Panda-Baby beim WWF. Würde man die FDP im Bundestag erhalten, wäre Lindner in seinem Kurs bestätigt. Würde man die FDP in der außerparlamentarischen Opposition von Lindner befreien, käme sie womöglich nie wieder zurück. Und der ehemalige Finanzminister könnte sich statt um Politik ums Baby kümmern. Trostpreis Vaterschaft.  

Was also tun? Die FDP belohnen für die D-Day-Schmuddeleien? Scholz für eine Kanzlerschaft als Führungs-Illusionist? Merz für eine Brandmauer, die zum Sauerländer Jägerzaun zu werden droht? Habeck für Heizungsgesetze und Kapitalertragsböcke? Warum haben wir uns früher so viel weniger schwer mit dem Wählen getan? Vermutlich, weil allen plötzlich bewusst wird, dass es diesmal wirklich um etwas geht. Sätze wie "Du kannst wählen, was du willst – du kriegst eh immer das gleiche" sind erkennbar falsch. Jetzt ist es an uns. 

Ein Charakteristikum dieser Wahl war womöglich das Umfrageergebnis nach dem Quadrell am Sonntag: Dort fanden die Befragten Robert Habeck am sympathischsten. Merz hingegen traute man mit weitem Abstand die Führung des Landes zu. Will sagen: Kompetenzvermutung schlägt Sympathie. Und einen sympathischen Rhetoriker wie Habeck, den könnte man sich doch gut als Bundespräsidenten vorstellen, oder? 

Um letzte Sympathien einzusammeln, überwinden sich die Spitzenkandidaten und zeigen viel Präsenz in eher fachfremden Medien: Friedrich Merz hockt wie ein Sparkassendirektor im Frühstücksfernsehen, Christian Lindner tritt wie ein Bro auf bei World Wide Wohnzimmer, Robert Habeck sitzt wie ein Vertrauenslehrer zwischen Twitch-Streamern, und es würde niemanden mehr überraschen, würde der umtriebige Kanzler am Samstagabend bei Giovanni Zarella vor Andrea Berg auf die Knie gehen. 

Das Winterfest der Volksbezirzung. Wenn's denn hilft. 

Wenn wir vor der Benutzeroberfläche von Netflix hocken und uns final entschieden haben, dann sind wir mit der Wahl zunächst einmal zufrieden – und 30 Minuten später eingeschlafen. Und so viel steht fest: Einschläfernd werden die nächsten Jahre gewiss nicht. 

Erschienen in stern 09/2025

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