Wie kann man vom Krieg erzählen? Vom großen Abschlachten auf irgendwelchen europäischen Feldern und Hügeln, in der Nähe von Kleinstädten, deren Namen bis heute mit Blut geschrieben sind: Austerlitz, Waterloo. Fußsoldaten, die in Bajonette stürzen, Kavallerie, auf die Kugeln hageln. Mann gegen Mann bis zur Auslöschung oder einem hastigen Rückzug.
Ridley Scott geht diese Frage pragmatisch an. Nüchtern wie ein Buchhalter erläutert der bald 86-Jährige durch seinen weißen Bart, dass er selbst zu einem General werden müsse, wenn am Set 900 Leute auf seine Anweisungen warten. "Irgendeiner muss die Verantwortung übernehmen", sagt er und wird grundsätzlich: "Wir leben in einer Welt, in der viele Falschinformationen kursieren und es nicht genug fähige Leute gibt, die zuständig sein wollen. Was zum Teufel ist da los?"

Bei seinen insgesamt 62 Drehtagen sei es deshalb, so Scott weiter, "tatsächlich militärisch" zugegangen. Regelmäßig traf er sich in einem "War Room" mit allen Abteilungsleitern zur Strategiebesprechung. Er heuerte Spezialisten für historische Kostüme und Waffen an, dazu einen Berater, der selbst jahrelang gedient hatte, wenngleich als Fallschirmjäger.
Um seine Schlachten bestmöglich auszuleuchten, ließ Scott bis zu elf Kameras gleichzeitig laufen. Die Logistik des Films wurde dadurch fast so gewaltig wie der Ruf des großen Korsen Napoleon. Da sich niemand im Hintergrund verstecken konnte, wurden Komparsen vorab in einem Bootcamp geschult. Jeder Statist sollte den damals extremen Drill kennen, wissen, wie man eine Muskete lädt und im Gleichschritt weitermarschiert.
So viel Grauen entfaltet seine Wirkung am machtvollsten auf der großen Leinwand. "Napoleon", produziert von Apple, startet jetzt im Kino und läuft zu einem späteren Zeitpunkt beim Streamingdienst des iPhone-Herstellers. Die Darstellung wirkt überwältigend echt, auch weil Scott bewusst auf zu viele Computereffekte verzichtet. Lieber setzt er auf echte Menschen, echte Pferde, echte Segelschiffe.
So bebildert er mit enormem Aufwand den militärischen und politischen Aufstieg eines Mannes, der aus einer kleinadeligen Familie und ohne Französischkenntnisse zum Kaiser von Frankreich und obendrein zum begnadeten Krieger reifte. Doch zu viel Gemetzel würde die Zuschauer zermürben bei einer Laufzeit von mehr als zweieinhalb Stunden. Scotts Lösung: Cherchez la femme – such die Frau hinter dem großen kleinen Mann. Es wird also privat.
Napoleon: Wie ein brünstiges Tier
Auf einer Party verliebt sich der Haudegen, von Oscarpreisträger Joaquin Phoenix teils größenwahnsinnig, teils kindlich albern gespielt, in die glamouröse Tochter eines Marineoffiziers. Er verfällt dieser Joséphine (Vanessa Kirby) derart, dass er später eine Expedition nach Ägypten abbrechen wird, nur um Gerüchte über ihr Fremdgehen zu überprüfen. "Du bist nichts ohne mich!", wirft sie ihm daraufhin an den Kopf, der ausnahmsweise mal ohne einen seiner berühmten Zweispitz-Hüte erscheint. Wie ein brünstiges Tier stellt er ihr nach – um seine endlose Lust zu stillen und um endlich einen männlichen Nachkommen zu zeugen. Doch Joséphine wird nicht schwanger, Napoleon muss sich anderen Mätressen widmen.

Seine Stärke beweist Scotts Napoleon jedoch nicht im Schlafzimmer, sondern im Feld. Gewalt und Brutalität zeigt sein Film meist nur kurz, aber eindringlich scheußlich. Beim Angriff auf ein Fort der Briten im Hafen von Toulon wird Napoleons Pferd von einer Kanonenkugel zerfetzt, doch der schüttelt sich nur kurz, kriecht benommen unter dem Kadaver hervor und stürzt sich mit blutverschmierter Fratze wieder ins Getümmel.
Solche Panoramen des Schreckens hat wohl kein anderer lebender Regisseur so oft, so virtuos inszeniert wie der in einer Küstenstadt nahe Newcastle geborene Engländer. Der Häuserkampf in den Straßen von Mogadischu, um die Besatzung zweier abgeschossener Hubschrauber zu retten ("Black Hawk Down"), die Belagerung von Jerusalem im 12. Jahrhundert ("Königreich der Himmel"), der Aufstand von Moses gegen den ägyptischen Pharao ("Exodus: Götter und Könige") und das römische Gemetzel in einem germanischen Wald ("Gladiator"): Ridley Scott wandelt gern auf dem Kriegspfad. "Napoleon" ist zudem eine Rückkehr zu seinen Anfängen. Der gelernte Grafikdesigner hatte zunächst jahrelang als Regisseur und Kameramann mit eigener Agentur bei mehr als 2500 Werbespots sein Handwerk verfeinert. Bis heute zeichnet er die geplanten Szenen seiner Filme selbst vor wie in einem besonders detaillierten Comic-Roman. Erst mit 39 wagte er den Schritt ins Filmgeschäft, mit einem Drama über zwei napoleonische Husarenoffiziere, die sich schon so lange in einer Fehde aufreiben, dass sie den Grund dafür längst vergessen haben: "Die Duellisten" (1977).
Sein Interesse an allem Militärischen stammt zumindest teilweise von seinem Vater Francis. Der Bürokaufmann stieg in einer Schiffsbehörde zum Fachmann für Meerestransporte und im Zweiten Weltkrieg zum Brigadegeneral auf. Im Rahmen des Marshallplans zog die Familie einige Jahre nach Deutschland. Eine Zeit lang liebäugelte auch Scott Junior mit einer ähnlichen Karriere, wollte zu den Marines. Was er dort lernen wollte? "Tauchen, an der Front kämpfen, lernen, wie man Leute umbringt – das ganze Programm", sagt Scott. Er entschied sich aber für die Kunst.
Trotz seiner Vorliebe für Schlachten auf der Leinwand bekennt er sich zum Pazifismus. "Jeder verliert im Krieg", sagt er. "Selbst wenn du auf der Gewinnerseite stehen solltest, verlierst du am Ende deine Seele." Zum aktuellen Konflikt der Israelis und Palästinenser will er eigentlich nichts sagen. "Außer, dass sie sofort damit aufhören sollten." Dennoch findet er gerade historische Kriegsfilme wie seinen relevanter denn je. "Weil wir nie vergessen sollten!", sagt Scott. "Vor allem, wenn es überall wieder Antisemitismus gibt und die ganze Welt offenbar verrückt geworden ist."
Dichtung und Wahrheit
Wie steht es um die Fakten seines Films? Die echte Joséphine war sechs Jahre älter als ihr Mann, Phoenix dagegen ist 49, Kirby 35. Bei der Schlacht von Waterloo waren die britischen Truppen anders als im Film in den Hügeln und im Wald positioniert. Napoleon hat nie die Pyramiden direkt beschossen. Darauf angesprochen, wirkt Scott kurz unwirsch, fällt aber bald wieder in die entspannte Pose eines Mannes, der unseren Blick auf die Realität schon oft neu justiert hat. Allein zwei seiner früheren Kinoarbeiten haben die Filmgeschichte geprägt: "Alien" von 1979 und "Blade Runner" von 1982. Kritik an seiner Arbeit ziemt sich deswegen genau so wenig, wie sich nach einem feinen Essen ins Tischtuch zu schnäuzen.

Was die Geschichte angeht, spricht Hollywood in solchen Fällen sowieso gern von "poetic licence", der Freiheit der Dichter. Scott, wieder gut gelaunt: "Es gibt mehr als 400 Bücher über Napoleon, und keiner der Autoren ist selbst dabei gewesen. Vieles bleibt doch nur Spekulation."
Unwidersprochen bleibt derweil die Liebe des Engländers Scott zur französischen Kultur. Als Jugendlicher entdeckte er bei einer Reise, dass es mehr gibt im Leben als Fish & Chips. Seit 30 Jahren erholt er sich in einem Haus mit Holzbalkendecke in der Provence von den Hollywood-Strapazen. Um die Füße wuselt ihm dort eine braune Pudeldame. Ihr Name ist Joséphine.