"Schultze gets the Blues" Sehnsuchtvoller Neuanfang in den Sümpfen Louisianas

Der in den Vorruhestand geschickte Schultze entdeckt, dass er mehr als Polka auf seinem Akkordeon spielen kann. Er bricht von Sachsen-Anhalt auf in die Südstaaten der USA - in die Heimat des Blues.

Was soll er auch sagen? Da sitzt er mit seiner elektrischen Salzlampe, die jeder zum Abschied bekommt, das letzte Mal im Frühstücksraum des Bergwerks. Dass es kein fröhlicher Tag wird, das ist ihm ins breite Gesicht geschrieben, als wolle es nie wieder daraus verschwinden. Es ist kein freiwilliger Abschied ins Rentnerdasein, sondern ein unfreiwilliger in den Vorruhestand. Deswegen sitzt Schultze da und tut, was er meistens getan hat: Er schweigt. Er beschweigt seine Angst vor dem ewigen Feierabend, und seine Trauer darüber, dass das Leben nun doch so kurz war, wie man immer gesagt hat. Ist das jetzt das Ende?

Das ist der Anfang. Der Anfang eines außergewöhnlichen Films des Ludwigsburger Filmschulabsolventen Michael Schorr. Der Anfang, wo man sich noch nicht zu lachen traut über den Dicken da und seine merkwürdigen Kumpels. Wie er dort sitzt und an seiner Salzlampe leckt wie in einem letzten Reflex. Da lacht man nicht. Weil man ja ahnt, was jetzt kommen wird: eine traurige Verlierergeschichte über die Traurigkeit, nicht mehr gebraucht zu werden von der Welt, nicht mehr bezahlt zu werden für Arbeit, sondern nur noch dafür, zu verschwinden. Irgendwann wird das letzte Bier getrunken, der letzte Zaun repariert und der letzte Gartenzwerg geputzt sein, und erst dann wird Schultze merken, dass es zu spät ist, um neu zu beginnen.

Seltsame Klänge aus Amerika

Doch die Ahnung ist falsch. Schultze, der ehemalige Kalikumpel, kann zwar nachts nicht mehr schlafen, weil er am Tage nichts mehr schafft. Schultze braucht zwar seine Zeit, sich von seinem alten Leben zu verabschieden, denn seine Seele ist noch im Bergwerk. Schultze klammert sich an sein Akkordeon wie ein kleiner Junge an den geliebten Teddybär. Und sein Leben gerät völlig aus dem Takt, als er nachts im Radio seltsame Klänge vernimmt: Zydecoo, Musik voller Sehnsucht aus dem Sehnsuchtsland Amerika. Und wenn man Schultze, dem Spießer, dem Laubenpieper, dem Kissenaufschüttler irgendetwas nicht zutraut, dann Sehnsucht.

Und plötzlich entdeckt Schultze, dass er nichts hat. Nämlich nichts zu verlieren. Dass das Leben auch einen anderen Rhythmus haben könnte, als das stete Auf und Ab der Polka, die er immer gespielt hat, mit immer gleichen Auftakten, und Höhepunkte, die so zu nennen man sich kaum traut.

Schultze probiert. Das erste Mal in seinem Leben etwas Neues. Erst fällt das Porträt des Vaters vor Schreck von der Wand, als Schultze die neuen Melodien anschlägt, dann sprengt er das Jubiläum seines Heimatvereins, weil Negermusik hier nicht so angesagt ist, weil man von ihm die Polka will wie immer, denn die klingt so schön nach früher. Und früher war alles besser.

Schultze fährt nach Amerika. Schlägt sich mit ein paar Brocken Englisch durch die Sümpfe Louisianas, läuft mit seinem Schrottkahn auf Grund, und ein überirdisch netter amerikanischer Wasserpolizist namens Captain Kirk zieht ihn wieder raus. Schultze sucht etwas, von dem er noch nicht genau weiß, was es ist und für das er niemals Worte in den Mund nehmen würde wie: "Sinn" oder "Selbstbestimmung" oder "Würde".

Was er findet, ist das Leben, sein Leben, wie es auch hätte sein können. Es gefällt ihm. Und in seinem Gesicht spiegeln sich Hoffnung und Erstaunen, Kopfschütteln über verlorene Jahre, und die Verwunderung, dass er, Schultze, jetzt tatsächlich mal die Chance zu bekommen scheint, die er schon so lange verdient hat.

Da geht es ihm übrigens wie Krause. Horst Krause, der Schauspieler, der Clown, der ewig Unterschätzte. Schultze scheint die Rolle seines Lebens zu sein. Als Hilfsbulle Krause darf er im Polizeiruf des RBB zwar schon seit langem der Kommissarin zuarbeiten, nie intelligent, höchstens manchmal schlau, meistens eher einfältig. Gedreht hat er zwar mit den Guten des deutschen Films, mit Andreas Dresen, mit Detlev Buck, mit Bernd Eichinger, mit Sönke Wortmann - abonniert meistens auf die Rolle des harmlosen Gemütsmenschen.

Trotzdem stand er bisher immer schön in der zweiten Reihe. Weil einer wie Horst Krause für die meisten nun mal keinen Helden abgibt, dafür ist er zu eigen, zu schräg und, sagen wir es ruhig, auch zu dick. Dicke Helden sind selten. Da geht es ihm übrigens wie Schultze. Der ist nicht gerade der Wortführer in seinem kleinen anhaltinischen Dorf. Reden tun meistens die anderen, Schultze sitzt dabei und denkt sich seinen Teil, oder auch nicht. Kann gut sein, dass die anderen ihn sogar für ein bisschen blöde halten. Schultze jedenfalls hätte eine Menge Ausreden dafür, warum er aus dem Rest seines Lebens nichts mehr machen kann: Er ist arm, er ist nicht jung, er ist nicht schön, er kann keine Fremdsprachen, er hat nicht mal ein Auto. Aber er nutzt sie nicht.

Und genau das hat offenbar nicht nur das Publikum, sondern auch die Jurys der europäischen Festivals bezaubert: In Venedig bekam der Debütant Schorr völlig überraschend den Preis für die beste Regie, in Stockholm bekam Horst Krause den Darstellerpreis, in Gijon gab es gleich drei Auszeichnungen: Bester Film, beste Regie, bestes Szenenbild. Weil "Schultze gets the blues" ein Film ist gegen die ewigen Ausreden und über den alten Traum, dass jedes Ende auch ein Anfang sein könnte. Neu beginnen kann man mit dem letzten Atemzug.

Frauke Hunfeld

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