Umso bemerkenswerter fiel dann auch die Antwort von Dustin Hoffman aus: "Wie Cannes so ist? Nun, das sage ich Ihnen, wenn ich mal da war."
Wie Recht der Mann doch hat. Denn natürlich fliegt man erst einmal nach Nizza, sieht die immer noch weiten Schneefelder der Alpengipfel, die verspielte Küstenlinie der französischen Riviera. Fährt mit dem Bus eine gute Stunde nach Cannes mit seinen Nobelhotels, seiner kleinen, aber feinen Altstadt, dem rhythmischen Heben und Senken der Yachten im Hafen, dem Geplänkel der Mittelmeerwellen. Die Palme, die während der nächsten zwei Wochen jedoch am häufigsten bewundert wird, ist die aus dem goldenen Cannes-Logo, das am Anfang jedes aufgeführten Filmes auf der Leinwand erscheint.
Und natürlich versaut einem das momentane Regenwetter so manche Strandparty oder Yachtaufenthalte, letztlich spielt es aber überhaupt keine Rolle, ob auf die Ziegeldächer gerade ein Hagelschauer niedergeht oder ein kleiner Sandsturm über die Croisette fegt. Die meisten Festivalbesucher würden davon sowieso nichts mitbekommen in ihrem stockdunklen, klammengen Kinosaal.
Wo wir uns stattdessen aufhalten? Nun, beispielsweise in einer philippinischen Großstadt, deren Verkehrslärm eigentlich nur mit Ohrenstöpsel zu ertragen ist. Schön, dass es hier wenigstens in einem Eckhaus ein altes Kino gibt, in das man sich zurückziehen könnte. Doch selbst hier prallt das Leben. Statt Disney-Filmen laufen Softpornos, was die Schwulen und Transen der Nachbarschaft zu allerlei Fummel- und Leckspielchen animiert, während die Besitzerin ihren untreuen Mann vor Gericht zerrt und die Angestellten ihre eigenen Sex- und Lebensprobleme bewältigen müssen. Der Film heißt übrigens "Service", ist der erste Wettbewerbsbeitrag von den Philippinen seit Menschengedenken, sonst aber nicht weiter der Rede wert, weil unbeholfen erzählt und unnötig zeigefreudig: Vom Blowjob in Großaufnahme zum Schneiden von Zehennägeln bis zum Ausdrücken einer Beule.
Oder wir befinden uns in einem Vorort des 22-Millionen-Molochs Sao Paulo, sitzen mit am Tisch einer allein erziehenden Mutter und ihren vier Söhnen, die sich eher schlecht als recht durch den Alltag schlagen. Der erste möchte als Fußball-Stürmer Karriere machen, geht mit seinen 18 Jahren aber kaum mehr als Jungtalent durch. Der zweite jobbt als Motorradkurier, dessen erste Versuche in Sachen Kriminalität scheitern. Der Dritte ist bibeltreuer Christ und arbeitet als Tankwart. Der Vierte sucht nach dem unbekannten Vater auf einem Busbahnhof. Die Story von "Linha de Passe", dem Wettbewerbsbeitrag aus Brasilien, klingt komplex und ist es auch, doch dank des versierten Regieduos Walter Salles ("Central Station", "Die Reise des jungen Che") und Daniela Thomas ist das Ganze so stringent verpackt und flüssig erzählt, das man am Ende die vier Jungs gerne noch länger begleitet hätte.
Oder wir sind auf einer 56 Hektar Großbaustelle, die mal eine der wichtigsten chinesischen Militärflugzeugfabriken war. Nun steht auf dem riesigen Areal inmitten der Metropole Chengdu kein Stein mehr auf dem anderen. Statt weitläufiger Maschinenhallen regieren schicke Apartmentkomplexe das neue Bild von "24 City", wie auch der Dokumentarfilm heißt, der einzige Wettbewerbsteilnehmer aus China. In dieser Ruinenlandschaft erzählen uns frühere Arbeiter von ihrem Leben in und mit der Fabrik. Wie monoton die Arbeit war, wie man unter psychologischen Druck gesetzt wurde, wenn ein Flugzeug wegen eines fehlerhaften Teiles abstürzte, wie man die Stadt in der Stadt, die sogar ihre eigene Limonade herstellte, verlassen wollte und doch immer wieder zurückkehrte. Das ist mal spannend, mal einschläfernd. Viele der Geschichten hätte man lieber in Spielfilmform gesehen, statt die meiste Zeit mit dem Lesen von Untertiteln zu verbringen. Was "24 City" dann doch faszinierender als gewöhnlich macht: Chengdu, der Ort des Geschehens wurde gerade von einem heftigen Erdbeben zerstört, der Film ist also ein historisches Dokument in zweifacher Hinsicht und bietet Ausblicke, die nun für immer verschwunden sind.
Weitaus unwirklicher als jede Stippvisite nach China, nach Sao Paulo oder auf die Philippinen geriet dann aber ein anderer Termin, von dem sich im Vorfeld kaum einer der Gäste viel versprochen hatte. Ein Cocktail Empfang im Carlton Hotel für den neuen Indiana Jones, am Vorabend der Weltpremiere. Wenige Kollegen, lecker Häppchen, weit und breit kein Star. Doch plötzlich stand Shia LaBoeuf da und machte Small Talk, während er dezent seine brennende Zigarette hinter dem Rücken verschwinden ließ. Plötzlich schneiten Ray Winstone, John Hurt und Jim Broadbent in den Saal und gaben sich leutselig. Kurz dahinter: Steven Spielberg, wie immer baseballbemützt, der selig Hände schüttelte, sich fotografieren und herzen ließ. Und dann stand wie aus dem Nichts, er hatte sich von hinten durch den Kücheneingang herein geschlichen, Harrison Ford im dunklen Anzug da. Nach einer kurzen Schonfrist des Bewunderns wurde auch er von Autogrammjägern und privaten Digitalkameras in Visier genommen und gab sich reichlich Mühe, nicht allzu genervt zu wirken. So nah kommt man den Superstars selbst in Cannes ziemlich selten. Ist gut, dass wir da waren.