Professor Dr. Simon Spiegel (44) ist Schweizer Filmwissenschaftler und Filmkritiker. Er lehrt an der Universität Zürich und forscht aktuell zum Thema Spoiler. Im Interview mit dem stern erklärt er, warum wir keine Angst mehr vor Spoilern haben sollten und warum vor 20 Jahren noch niemand Spoilerwarnungen kannte.
stern: Herr Spiegel, aktuell liest man ja ständig "Achtung, Spoiler" und "Spoileralarm". War das schon immer so?
Simon Spiegel: Nein, die Angst vor Spoilern ist ein recht junges Phänomen. Im englischen Sprachraum verwendet man den Begriff seit 20 Jahren, im deutschen vielleicht seit zehn bis 15. Die Spoiler-Thematik hat mit der Jahrtausendwende sehr an Fahrt aufgenommen. Durch Social Media gibt es ganz neue Kommunikationsformen: Man kann schneller mehr Leute erreichen. Früher in der Zeitung konnte man eine Rezension einfach überblättern. Einen Tweet oder einen Post hat man da viel schneller aus Versehen gelesen.

Hat das etwas mit der zunehmenden Popularität von Streamingdiensten wie Netflix und Co. zu tun?
Ich sage mal so: Es liegt nicht daran, dass es früher nicht möglich war, das Ende eines Films oder eines Buches zu verraten. Aber: Wie wir Filme und Serien konsumieren, hat sich verändert. Es gibt nicht mehr diese Gleichzeitigkeit. Ein Beispiel: Früher haben alle am Sonntagabend den Tatort gesehen und dann darüber gesprochen. Heute ist das anders: Einige schauen die neue Serie auf einmal, andere teilen sie sich auf. Diese Ungleichzeitigkeit birgt mehr Potential zum Spoilern. Aber auch die Zahl von Filmen und Serien mit Twists hat zugenommen.
Wann sind Sie zum ersten Mal mit Spoilern in Berührung gekommen?
Ich war schon als Teenager filmbegeistert. Vor dem Studium habe ich viel über Filme gelesen, damals gab es noch kein Streaming. Im Programmkino habe ich dann viele Klassiker gesehen. Und natürlich hatte ich über die meisten schon ganz viel gelesen: Worum es geht, was der Clou ist und warum der Film überhaupt bekannt ist. Aber: Die Tatsache, dass ich im Voraus wusste, was geschieht, hat keine Rolle gespielt, ob ich die Filme großartig fand oder nicht.
Sondern?
Es geht doch vielmehr darum, was mich emotional mitnimmt: Was lässt mich vor Angst im Kinosessel zusammensinken, was lässt mich vor Spannung darin festkrallen? Es geht um Rhythmus, um Musik, die schauspielerische Leistung. Es ist nicht der Plot. Der Plot ist nicht unwichtig, aber für die emotionale Erfahrung ist er nicht das Entscheidende.
Also sind es andere Dinge als ein Plot-Twist, die einen Film oder eine Serie gut werden lassen.
Ich wage zu sagen: Wenn ein Film durch einen Spoiler zerstört werden kann, dann ist es kein besonders guter Film. Es kann doch nicht sein, dass ich mir 90 oder 120 Minuten Film oder eine ganze Serie nur wegen des Endes anschaue. Es geht doch vielmehr darum, was unterwegs geschieht: Die Entwicklung der Figuren oder irre Stunts. Das ist doch meist sogar viel interessanter als das Ende. Und Lieblingsromane und Lieblingsserien sind doch das beste Indiz dafür, dass ein Vorwissen kein Problem darstellt. Im Gegenteil: Man kann sie immer wieder anschauen und genießen. Und entdeckt vielleicht sogar jedes Mal ein neues Detail, das einem vorher noch nicht aufgefallen war.
Woher kommt dann die Angst vor Spoilern?
Die Angst vor Spoilern beruht auf einem Irrtum. Die Spoilerangst geht nämlich von einer Annahme aus: Der Idealzustand ist, dass ich im Voraus gar nichts weiß über den Film. Aber das ist falsch: Ich habe immer ein Vorwissen, mehr oder weniger ausführlich. Die ganze Populärunterhaltung funktioniert doch nach dem Prinzip, dass ich als Zuschauer das kriege, was ich möchte. Ein Genre wie etwa Krimi besteht doch aus lauter Geschichten, die nach demselben Prinzip funktionieren. Und lauter neue Dinge gibt es nicht. Einige Filme erfordern sogar Vorwissen. Spoiler verkleinern Filme und Serien also nicht. Sie können das Erlebnis sogar verstärken: So lässt das Wissen über das Ende die Geschichte von Romeo und Julia noch dramatischer werden. Bei der Titanic ist es genau das gleiche. Man nennt das dann dramatische Ironie. Man hat als Zuschauer das Vorwissen: Es geht mit der Hauptfigur nicht gut aus.
Gibt es denn bestimmte Genres, in denen Spoiler häufiger vorkommen?
In meiner Wahrnehmung beschränkt sich die Spoilerpanik auf Mainstreamfilme, bei denen wir ohnehin wissen, was geschieht. Was im neuen Marvel-, Star Wars- oder James Bond-Film passiert, ist eigentlich eh schon vorher klar. James Bond will immer die Welt vor einem Bösewicht retten, es gibt jedes Mal Verfolgungsjagden. Aber im Arthouse-Bereich interessiert sich keiner für Spoiler, dabei ist genau da die Handlung weniger vorhersehbar und häufiger überraschend und innovativ. Also: Gerade dort, wo es am wenigstens zu spoilern gibt, ist die Sensibilität dafür am höchsten.
Leute, die sich über Spoiler ereifern, wären vermutlich sehr unzufrieden, wenn ein neuer Marvelfilm oder James Bond anders wäre, als sie es gewohnt sind.