Puh! Vor gerade mal drei Stunden gelandet. Zum Lido getuckert. Gepäck abgeladen, per Rad zum Festivalzentrum gestrampelt. Erste Deo-Dosis aufgebraucht. Akkreditierung abgeholt, kurz aufs Meer geblinzelt, über die in der Hitze brutzelnden Schaulustigen geschmunzelt. Zack ins Kino, schön kühl, durchatmen, Handy aus, zurücklehnen und dann das: der neue Abel Ferrara. Nicht eben der Erfinder des Gute-Laune-Films. "Bad Lieutanant", "The Funeral", "The Blackout" - schwere Psychokost, schwere Erlösungsbrocken, oft beides gleichzeitig. Ferrara lebt neuerdings in Rom, New York nach wie vor im Herzen. Will der getriebene Katholik näher am Epizentrum seines Glaubens sein? Ist er schockgefroren aus der Stadt des 11. September geflohen?
Ja. Beides und noch viel mehr spielt in seinem Wettbewerbsfilm "Mary" eine Rolle. Dank Dan Browns Megaseller "Sakrileg" und Mel Gibsons blutigem Leidens-Hit "Die Passion Christi" ist Jesus wieder popkulturell hip. Ferrara freut's. Seit Jahren schon stand dieses Projekt auf Stand-by - doch wer will schon investieren in einen als schwierig, weil bis zur Schmerzgrenze konsequenten Regie-Maniac und dessen filmischen Essay über unbequeme Glaubensfragen?
Plötzlich setzt die Spiritualität ein
Nun also 83 Minuten harte Arbeit. Über einen Regisseur (Matthew Modine), der einen Jesus-Film mit sich selbst in der Hauptrolle dreht. Dem nach Drehschluss die Maria-Magdalena-Darstellerin Marie (Juliette Binoche) wegen plötzlich einsetzender Spiritualität Richtung Jerusalem ausbüxt. Einen populären TV-Moderator (Forest Whitaker), der in Gesprächen mit Theologen der Wahrheit über den Erlöser auf die Spur kommen will und seine hochschwangere Frau (Heather Graham) mit Maries bester Freundin hintergeht.
Aus dieser Konstellation schraubt Ferrara ein bedrohlich wirkendes Fresko aus Schuld und Sühne, Terror-Angst, Reflexionen über das Filmemachen, alltägliche Großstadtgewalt und die Suche nach Gott zusammen, das am Ende das Publikum in zwei gleichstarke Buh!- und Bravo-Lager teilte. Und kollektiv für eine Schrecksekunde in die Realität zurückkatapultierte. Als auf der Leinwand urplötzlich eine Bombe explodiert, ist einen Moment lang Unruhe im Saal zu spüren. War das jetzt im Film oder etwa draußen? Unwillkürlich schweifen die Gedanken nach draußen vors Casino, wo putzige Behelfsbarrieren, mürrische Sonnenbrillen-Security-Hünen und Metall-Detektoren das Hilflosigkeitsgefühl gegenüber dem Terror lindern sollen. Anschließend torkelt man noch leicht hirngefräst auf ein Kaltgetränk ins pittoreske Excelsior-Hotel, einer der Hauptschauplätze des Festivals, und wundert sich darüber, dass man hier nicht mal seine Akkreditierung vorzeigen muss, um reinzukommen.
Intellektuelles Kostüm-Ehedrama
Ebenso kühl wie die vier Euro teure Cola, aber weitaus weniger erfrischend kommt Patrice Chéreaus Löwen-Anwärter "Gabrielle" daher, ein kammerspielartiges Historienstück über eine Großbürgerin (in gewohnter Tragik-Routine von Isabelle Huppert gespielt), die ihren Mann betrügt, verlässt, aber wieder zu ihm zurückkehrt. Letzteres ist keine gute Nachricht für den Zuschauer, der sich nun den Rest der Strecke damit beschäftigen darf, wie die beiden versuchen, nach außen den harmonischen Schein zu wahren. Und irgendwie ist es einem am Ende egal, ob ihnen das gelingt, ob sie sich wieder zusammenraufen, Schlaftabletten nehmen oder sonst was, denn unterwegs sind einem längst die Gefühle abhanden gekommen für diese beiden leblosen Bestandteile eines üppigen Dekors. Der große französische Theatermann Chéreau dreht ein gediegenes, intellektuelles Kostüm-Ehedrama - so was ist immer für einen Preis gut.
Definitiv einen Löwen wünschen wir hingegen John Turturro und seinem wunderbar ausgelassenen Working-Class-Musical "Romance & Cigarettes". Der mit James Gandolfini, Susan Sarandon, Kate Winslet, Steve Buscemi und Christopher Walken großartig besetzte und gespielte Film erzählt im Grunde die simple Geschichte eines Brückenarbeiters aus Queens, der seine Frau betrügt und kurz davor steht, seine Familie zu verlassen. Was nach dem üblichen betongrauen Mike Leigh-Stoff klingt, explodiert durch extrem schräge Gesangs- und Tanzeinlagen (die Schauspieler bewegen die Lippen synchron zu zahlreichen Gassenhauern aus den 50er und 60er Jahren) zu einer bunten Revue über die Liebe und das Leben, die wir in dieser unverschämten Art eigentlich nur aus England oder Skandinavien kennen. Dass Turturro, der auch das Drehbuch schrieb, im letzten Viertel nicht so recht weiß, durch welche Kurve seine Story nun ins Ziel gehen soll, sei ihm allein schon wegen des philosophischen Diskurses zwischen Gandolfini und Buscemi über das Liebesleben von Tony Curtis verziehen. Oder wegen Kate Winslets phantastischer Vorstellung als schnodderschnäuzige, rothaarige Schlampe.
Womit dieser Tag doch noch einen wetterwürdigen Abschluss gefunden hat. Gott sei Dank und Amen.
Bernd Teichmann