Der Sturm ist ausgeblieben. Zehn Tage ist es nun her, dass Friedrich Merz das Andenken Walter Lübckes beschädigt und den Mord an einem Parteifreund für seine eigenen Zwecke instrumentalisiert hat. Mittlerweile aber hat sich, neben zahlreichen Stimmen aus dem politischen Raum, auch die Witwe von Walter Lübcke geäußert. Mit Befremden. Aber dazu später mehr.
Es ist der CDU-Wahlkampfabschluss in München, Friedrich Merz ist bei der CSU eingeladen. Er spricht über das Ende der Ampelregierung, das Ende der CDU-Opposition, innere Sicherheit, äußere Sicherheit, Robert Habeck, Bürgergeldempfänger, Steuersenkungen und Asylbewerber. Nach etwa einer halben Stunde sagt Friedrich Merz über die vor der Tür gegen ihn protestierenden Menschen Folgendes:
"Ich frage mal die Ganzen, die da draußen herumlaufen. Antifa und 'Gegen Rechts'. Wo waren die denn, als Walter Lübcke in Kassel ermordet worden ist von einem Rechtsradikalen?"
Der Saal johlt und klatscht begeistert. Über diese rhetorische Frage, die impliziert, dass "die Antifa" geschwiegen hätte, nachdem Walter Lübcke ermordet wurde. Und dass diejenigen, die sich "gegen rechts" engagieren, also mutmaßlich auch die Menschen vor der Türe gerade, keine Solidarität mit Lübckes Angehörigen gezeigt hätten, weil der Ermordete ein CDU-Politiker war.

Zur Person
Stephan Anpalagan, geboren 1984 in Sri Lanka und aufgewachsen in Wuppertal, ist Diplom-Theologe, Autor und Musiker. Nachdem er zehn Jahre in der Wirtschaft als Manager tätig war, ist er nun Geschäftsführer einer gemeinnützigen Strategieberatung und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in NRW. In seinen Texten verhandelt er die Themen Heimat und Identität.
Ich begleite Friedrich Merz seit vielen Jahren kritisch. Seine politische Karriere ist gepflastert mit Missverständnissen, Ungenauigkeiten und Unwahrheiten. Aber diese Entgleisung hat eine neue Qualität. Umso wichtiger ist es, die Fakten zu kennen.
Für die "Hessische/Niedersächsische Allgemeine" hat der Kasseler Lokalredakteur Matthias Lohr die Umstände um die Ermordung von Walter Lübcke dokumentiert: dass das Antifa-Kollektiv "Exif-Recherche" bereits am 17. Juni 2019, 16 Tage nach dem Mord, ein umfangreiches Dossier zum Täter erstellt hatte. Dass der spätere Untersuchungsausschuss daraus zitierte und mit den Informationen arbeitete. Dass die "Gegen Rechts"-Initiative "Offen für Vielfalt" seit Jahren zivilgesellschaftliche Projekte fördert und zum fünften Todestag von Walter Lübcke den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier nach Kassel holte. Dass nach dem Mord viele Tausende Menschen in Kassel, Wolfhagen und im ganzen Land demonstrierten. Gegen rechts. In Solidarität und Anteilnahme mit den Hinterbliebenen von Walter Lübcke. Jahrelang.
Lübckes Witwe widerspricht Friedrich Merz
Nach der Rede von Friedrich Merz meldete sich die Witwe von Walter Lübcke, Irmgard Braun-Lübcke, öffentlich zu Wort. Die Frau, die sich nur selten öffentlich äußert, möchte Merz’ Formulierung nicht unwidersprochen stehen lassen und erzählt, wie sehr sie und ihre Familie von Merz' Aussagen befremdet seien. Sie sei dankbar über die vielen Demonstrationen gegen Gewalt, Hass und Hetze sowie für Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit. Sie sagt: "Dies gab uns als Familie sehr viel Kraft und zeigte, wir sind nicht allein, du bist nicht allein, wir treten gemeinsam ein für den Bestand unserer Demokratie."
Friedrich Merz erzählt nicht nur eine Lüge über den Mord an einem Parteifreund und verletzt damit dessen Hinterbliebene, sondern verkehrt mit seinen Worten auch noch die Ereignisse in ihr Gegenteil.
Wie bereits beim NSU sind es zivilgesellschaftliche Organisationen, Betroffene und die viel gescholtene Antifa, die zuweilen besser Bescheid wissen als die Sicherheitsbehörden. Sie stellen Zusammenhänge her und nehmen die Tatverdächtigen ins Visier. Es ist die Partei Die Linke, die bereits vier Jahre vor dem Mord an Walter Lübcke im NSU-Untersuchungsausschuss nach dem späteren Täter fragt, ihn mit rechtem Terror in Verbindung bringt. Weil er den Behörden bekannt war, schon damals als gefährlich galt.
Wer an alledem keinen Anteil hat: die CDU.
Was wirklich fehlte: Solidarität innerhalb der CDU
Als Christoph Lübcke, der Sohn, dreieinhalb Jahre nach dem Mord an seinem Vater zum ersten Mal ein Interview gibt, antwortet er den Kollegen von "t-online" auf die Frage "Bekam Ihr Vater damals Unterstützung aus der CDU?": "Da kam wenig bis nichts. Mein Vater hat sich schon sehr allein in dieser Situation gefühlt." Peter Tauber, ehemaliger Generalsekretär der CDU, der dem Interview ebenfalls beiwohnt, wird noch deutlicher: "Mein Bauchgefühl war aber sofort: Der Walter ist ermordet worden. Aber meine Partei schwieg. (…) Dieses fast dröhnende Schweigen fand ich unerträglich. Darum hatte ich mich auf Twitter dann entsprechend geäußert. Für mich war klar: Die monatelange Hetze von Erika Steinbach und anderen hat mit zu der Tat geführt. Worte sind Taten geworden."
Erika Steinbach, das muss man wissen, saß 27 Jahre für die CDU im Bundestag, war zwischenzeitlich menschenrechtspolitische Sprecherin, bevor sie im Jahr 2017 aus der CDU aus- und im Jahr 2022 in die AfD eintrat. Sie befeuerte noch in ihrer Zeit als Parteifreundin Lübckes den Hass auf ihn, teilte Beiträge und Videos, die von ihren Followern mit offenen Mordaufrufen an Walter Lübcke kommentiert wurden.
Auch Michael Brand, Chef der hessischen CDU-Fraktion im Bundestag, beklagte in einem internen Schreiben an seine Fraktion, dass kaum jemand über rechtsextremen Terror rede, dass zu viele Abgeordnete des Bundestags "feige abtauchen". Ein Jahr nach dem Attentat auf Walter Lübcke schafft es die damalige Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer nicht, den Anschlag als rechtsextremen Mord zu benennen.
Man könnte noch viel mehr aufführen. Wie der CSU-Politiker Horst Seehofer 2018 erklärte, auch er wäre bei der Trauermarsch genannten Demonstration von Tausenden Rechtsextremen in Chemnitz mitgelaufen, wäre er nicht hauptberuflich Bundesinnenminister. Bei derselben Demo also, auf der der Täter von Walter Lübcke seinen Tatentschluss fasste.
Oder dass der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, erst über Äußerungen zu besagter Demo in Chemnitz seinen Job verliert, später von der CDU als Bundestagskandidat aufgestellt und mittlerweile vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist geführt wird.
Oder eben, so haben es die Kollegen von der "taz" recherchiert, dass Friedrich Merz zweieinhalb Wochen nach dem Mord an Walter Lübcke über alles Mögliche schreibt, redet und twittert, nur nicht über Walter Lübcke. Bei keiner einzigen der Solidaritätskundgebungen dieser Zeit ist Friedrich Merz zu sehen. Als Sandra Maischberger ihn in ihrer Sendung darauf anspricht, nutzt Merz die Gelegenheit für einen Angriff auf seine parteiinterne Widersacherin Angela Merkel. Die Frage also müsste lauten: "Wo war denn Friedrich Merz, als Walter Lübcke in Kassel ermordet worden ist von einem Rechtsradikalen?"
Ein Angriff, der uns alle angeht
Der jüngere Sohn, Jan-Henrik Lübcke, erzählte nach dem Mord bei Gericht, dass sein Vater nie abfällig über Flüchtlinge geredet habe, dass er versucht habe, den Menschen pragmatisch zu helfen. Dass er christliche Werte vorangestellt habe. Walter Lübcke, das wird nicht nur an dieser Stelle deutlich, war ein politisches und menschliches Vorbild.
Dass das Andenken an einen Menschen, der wegen seiner Menschlichkeit und Nächstenliebe ermordet wurde, im Nachhinein vom Parteivorsitzenden der CDU und dem zukünftigen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland verhöhnt und herabgewürdigt wird, ist nicht nur ein Angriff auf den christlich-konservativen Kern seiner eigenen Partei. Es ist nicht nur unanständig. Es ist ein Angriff auf unsere freie und demokratische Gesellschaft. Auf die Werte, für die Walter Lübcke eingestanden hat und für die er ermordet wurde. Wir dürfen darüber nicht feige abtauchen. Wir sollten nicht aufhören, darüber unsere Stimme zu erheben!